Hannah Arendt
Hannah Arendt (geboren am 14. Oktober 1906 in Linden, heute ein Stadtteil von Hannover; gestorben am 4. Dezember 1975 in New York; eigentlich Johanna Arendt) war eine jüdische deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Die Entrechtung und Verfolgung von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus sowie ihre eigene kurzzeitige Inhaftierung durch die Gestapo bewogen sie 1933 zur Emigration aus Deutschland. Vom nationalsozialistischen Regime 1937 ausgebürgert, war sie staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Seitdem verstand sie sich als US-Amerikanerin und bekannte sich zur US-amerikanischen Verfassung. Sie war unter anderem als Journalistin und Hochschullehrerin tätig und veröffentlichte wichtige Beiträge zur politischen Philosophie. Gleichwohl lehnte sie es ab, als „Philosophin“ bezeichnet zu werden. Auch dem Begriff „Politische Philosophie“ stand sie eher distanziert gegenüber; sie gab der Bezeichnung „Politische Theorie“ für ihre entsprechenden Publikationen den Vorzug und legte Wert darauf, dass sie als Historikerin arbeite. Die Intellektuellen, die sich ab 1933 Adolf Hitler zuwandten, verachtete sie.
Arendt vertrat ein Konzept von „Pluralität“ im politischen Raum. Demnach besteht zwischen den Menschen eine potentielle Freiheit und Gleichheit in der Politik. Wichtig ist es, die Perspektive des Anderen einzunehmen. An politischen Vereinbarungen, Verträgen und Verfassungen sollten auf möglichst konkreten Ebenen gewillte und geeignete Personen beteiligt sein. Aufgrund dieser Auffassung stand sie rein repräsentativen Demokratien kritisch gegenüber und bevorzugte Rätesysteme und Formen direkter Demokratie.
Nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen theoretischen Auseinandersetzungen mit Philosophen wie Sokrates, Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Martin Heidegger und Karl Jaspers sowie mit den maßgeblichen Vertretern der neuzeitlichen politischen Philosophie wie Niccolò Machiavelli, Charles de Montesquieu und Alexis de Tocqueville wird sie dennoch häufig als Philosophin bezeichnet. Gerade wegen ihres eigenständigen Denkens, der Theorie der totalen Herrschaft, ihrer existenzphilosophischen Arbeiten und ihrer Forderung nach freien politischen Diskussionen nimmt sie in den Debatten der Gegenwart eine bedeutende Rolle ein.
Ihre öffentlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren häufig unter Gegnern, aber auch Freunden umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft, insbesondere ihre Arbeit zum Eichmann-Prozess. Durch ihr politisches Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Anfang der 1950er Jahre wurde sie in der Öffentlichkeit bekannt. Vita activa oder vom tätigen Leben ist ihr philosophisches Hauptwerk.
Als Quellen für ihre Überlegungen nutzte Arendt neben philosophischen, politischen und historischen Dokumenten unter anderem Biografien und literarische Werke. Diese Texte wertete sie wortgetreu aus und konfrontierte sie mit ihren eigenen Denkansätzen.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Leben und Werk
- 1.1 Kindheit und Jugend
- 1.2 Studienzeit
- 1.3 Heirat, Beginn der NS-Herrschaft, erste politische Aktivitäten
- 1.4 Exil, zweite Ehe und Engagement für jüdische Flüchtlinge
- 1.5 Immigration in die USA, Erwerbstätigkeit und Kampf für eine jüdische Armee
- 1.6 Erste Reisen in die Bundesrepublik und Berichte über die Nachwirkungen des NS-Regimes
- 1.7 Arbeiten zur Existenzphilosophie
- 1.8 Stellungnahmen zu Palästina und Israel
- 1.9 Formen totaler Herrschaft
- 1.10 US-Staatsbürgerschaft, berufliche Position und politische Stellungnahmen
- 1.11 Eichmann-Prozess
- 1.12 Lehre an Universitäten und Auszeichnungen
- 1.13 Entfaltung ihres Denkens in Reden und Essays
- 1.14 Vergleich von amerikanischer und französischer Revolution und Verfassung
- 1.15 Zu Fragen der Ethik
- 1.16 Veröffentlichungen, Auftritte in der Öffentlichkeit, Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit
- 1.17 Beziehungen und Freundschaften
- 1.18 „Denktagebuch“
- 1.19 Alter und Tod
- 2 Hauptwerke
- 3 Wirkung
- 4 Erbe und weitere Namensverwendung
- 5 Siehe auch
- 6 Literatur
- 7 Mediale und künstlerische Rezeption
- 8 Weblinks
- 9 Einzelnachweise
Leben und Werk
Kindheit und Jugend
Johanna Arendt wurde 1906 als Tochter säkularer jüdischer Eltern in Linden bei Hannover geboren. Ihre Vorfahren stammten aus Königsberg, wohin ihr schwer erkrankter Vater, Paul Arendt (1873–1913), und die Mutter, Martha geb. Cohn (1874–1948), zurückkehrten, als sie kaum drei Jahre alt war. Nach dem frühen Tod des Vaters, der Ingenieur war,<ref name="gaus" /> wurde sie von ihrer sozialdemokratisch eingestellten Mutter freiheitlich erzogen. In den gebildeten Kreisen Königsbergs, in denen sie aufwuchs, war die Mädchenbildung selbstverständlich. Durch die Großeltern (ein Großvater war der Großkaufmann und Kommunalpolitiker Max Arendt) hatte sie das liberale Reformjudentum kennengelernt. Sie gehörte keiner religiösen Gemeinschaft an, verstand sich jedoch immer als Jüdin.
Bereits im Alter von 14 Jahren las sie Kants Kritik der reinen Vernunft und Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen sowie Søren Kierkegaard.<ref>Vgl. Kurt Sontheimer: Hannah Arendt, Piper, München-Zürich 2005, 23.</ref> Sie musste die Schule wegen Differenzen mit einem Lehrer verlassen,<ref>Vgl. Kurt Sontheimer: Hannah Arendt, Piper, München-Zürich 2005, 23f.</ref> ging anschließend nach Berlin, wo sie ohne formalen Schulabschluss unter anderem als Gasthörerin Vorlesungen zur christlichen Theologie, u. a. bei Romano Guardini, besuchte.<ref>Vgl. Kurt Sontheimer: Hannah Arendt, Piper, München-Zürich 2005, 24.</ref> Zurück in Königsberg, bestand sie 1924 als externer Prüfling das Abitur. Noch während ihrer Schulzeit hatte sie einen philosophischen Kreis gegründet, in dem sie 1920 Ernst Grumach traf. Durch ihn lernte sie ihre langjährige Freundin Anne Mendelssohn<ref>später Anne Mendelssohn-Weil</ref> kennen.
Studienzeit
1924 nahm sie ihr Studium an der Universität Marburg auf und studierte ein Jahr lang Philosophie bei Martin Heidegger und Nicolai Hartmann, außerdem als Nebenfächer Evangelische Theologie, wobei sie insbesondere Vorlesungen bei Rudolf Bultmann hörte, sowie Griechisch.
Der 35-jährige Familienvater Heidegger und die 17 Jahre jüngere Studentin verliebten sich ineinander und begannen eine Beziehung.<ref>Vgl. die Darstellung v.a. aufgrund beider Briefwechsel bei Elzbieta Ettinger: Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Geschichte. München 1995.</ref> Arendt war nicht die erste und nicht die einzige Liebesbeziehung Heideggers in seiner Marburger Zeit.<ref>Alfred Denker, Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger, Stuttgart 2011, S. 67</ref> Anfang 1926 fasste sie den Entschluss, den Studienort zu wechseln, und ging für ein Semester zu Edmund Husserl nach Freiburg. In Heidelberg studierte sie anschließend Philosophie und promovierte 1928 bei Karl Jaspers mit der Arbeit Der Liebesbegriff bei Augustin. Mit Jaspers blieb sie bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden. Die Beziehung zwischen Heidegger und Arendt blieb der Öffentlichkeit verborgen, bis 1982 die große Arendt-Biografie von Elisabeth Young-Bruehl gleichzeitig in den USA und Großbritannien erschien.<ref>Hannah Arendt: For Love of the World. Yale University-Press, New Haven/London 1982, dt.: Hannah Arendt. Leben und Werk. (Übers. Hans Günter Holl), S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1986, S. 92ff.</ref> Seitdem gibt es darüber zahlreiche Veröffentlichungen.
Während Arendt in Marburg wegen ihrer Beziehung zu Heidegger, die dieser geheim halten wollte, sehr zurückgezogen lebte und lediglich zu ihrem Kommilitonen Hans Jonas sowie ihren Königsberger Freunden Kontakte pflegte, weitete sie ihren Freundeskreis in Heidelberg aus. Dazu gehörten Karl Frankenstein, der 1928 eine geschichtsphilosophische Dissertation vorlegte, der Jungianer Erich Neumann und Erwin Loewenson, ein expressionistischer Essayist. Auch Jonas kam nach Heidelberg und arbeitete dort ebenfalls über Augustinus.
Ein anderer Kreis erschloss sich ihr durch die Freundschaft mit Benno von Wiese und die von Jaspers empfohlenen Vorlesungen von Friedrich Gundolf. Große Bedeutung hatte für sie zudem Kurt Blumenfeld, der Geschäftsführer und Hauptsprecher der deutschen Zionistenorganisation, dessen Thema die Erforschung der so genannten Judenfrage und der Assimilation war. Ihm verdanke sie, heißt es in einem Brief an ihn aus dem Jahr 1951, ihr Verständnis für die Situation der Juden.<ref>Die Korrespondenz: Hannah Arendt, Kurt Blumenfeld. Hamburg 1995, S. 52.</ref>
Heirat, Beginn der NS-Herrschaft, erste politische Aktivitäten
Ihr erstes Buch trägt den Titel Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Es handelt sich um ihre bereits im Alter von 22 Jahren verfasste und 1929 in Berlin gedruckte Dissertation. Darin verbindet sie philosophische Ansätze Martin Heideggers mit denen von Karl Jaspers und betont bereits damals die wichtige Rolle der Geburt für das Individuum wie auch für seine Mitmenschen. Damit grenzt sie sich von ihrem Lehrer Heidegger ab.<ref>Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a.M. 1986, S. 123–127.</ref> Das Werk wurde in wichtigen philosophischen und literarischen Publikationen besprochen. Auf Kritik stieß, dass sie Augustinus als Philosophen betrachtet und nicht als Kirchenvater. Außerdem wurde bemängelt, dass sie neuere theologische Literatur nicht zitiert habe. Einige Interpreten sehen in diesem Werk indes bereits spätere Leitmotive Arendts vorbereitet.<ref>Vgl. Herta Nagl-Docekal, Ludwig Nagl: Augustinuslektüren im Kontext der Gegenwartsphilosophie, in: Bert van den Brink, Marcus Düwell u.a. (Hrsg.): Geschichte – Politik – Philosophie. FS Willem van Reijen, Wilhelm Fink Verlag, München 2003, 24-38 (zu Arendt 25-30), 25; unter Bezugnahme insb. auf Ronald Beiner: Love and Worldliness: Hannah Arendt's Reading of Saint Augustine, in: Larry May, Jerome Kohn (Hrsg.): Hannah Arendt. Twenty Years Later, Cambridge, Mass. - London 1996, S. 269–284, 276; Joanna Vecchiarelli Scott, Judith Chelius Stark: Rediscovering Hannah Arendt, in: Hannah Arendt: Love and Saint Augustine, Chicago-London 1996, 115–212, 135f.</ref>
In Berlin traf sie ebenfalls 1929 Günther Stern wieder, den sie schon aus Marburg kannte.<ref>Ursula Ludz (Hrsg.), Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925–1975. Frankfurt a.M., Vittorio Klostermann, 1999², S. 50 f. (Brief H. an A. vom 18. Oktober 1925)</ref> Kurz darauf zog sie mit ihm zusammen, für die damalige Zeit ein in der öffentlichen Meinung verpöntes Verhalten; die beiden heirateten noch im selben Jahr. Nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg wohnte das Ehepaar ein Jahr in Frankfurt. Arendt schrieb für die Frankfurter Zeitung und besuchte Seminare bei Paul Tillich und Karl Mannheim, dessen Buch Ideologie und Utopie sie rezensierte.<ref>Philosophie und Soziologie. Rezension. In: Die Gesellschaft, 1930, 163 ff.</ref> Zugleich befasste sie sich mit Rahel Varnhagen von Ense, einer assimilierten intellektuellen Jüdin der Romantik.
Als sich abzeichnete, dass Sterns Habilitationsschrift von Theodor W. Adorno nicht akzeptiert werden würde, gingen beide wieder nach Berlin. Dort begann Arendt, angelegt als Habilitation, mit der Arbeit an ihrem Werk über Rahel Varnhagen. Nach einem positiven Gutachten von Jaspers, der weitere Gutachten von Heidegger und Dibelius besorgte, wurde die Studie durch ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefördert. Gleichzeitig begann Arendt, sich mehr für politische Fragen zu interessieren. Sie las Marx und Trotzki und knüpfte neue Kontakte an der Hochschule für Politik. Die Ausgrenzung der Juden trotz Assimilation analysierte sie anhand des erstmals von Max Weber in Bezug auf die Juden verwendeten Begriffs „Paria“ (Außenseiter). Sie stellte diesem, angeregt durch die Schriften Bernard Lazares, den entgegengesetzten Terminus „Parvenu“ (Aufsteiger) gegenüber. 1932 veröffentlichte sie in der Zeitschrift Geschichte der Juden in Deutschland den Artikel Aufklärung und Judenfrage, in dem sie in der Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn als Aufklärern und Johann Gottfried Herder als Vorläufer der Romantik ihre Ideen über die Eigenständigkeit des Judentums entwickelte.<ref>Aufklärung und Judenfrage. In: Geschichte der Juden in Deutschland. 4. Jahrgang, Heft 2/3, Berlin 1932. Wieder in: H.A., Die verborgene Tradition. Acht Essays. Suhrkamp 1976, S. 108–126. Engl. Fassung in: H.A., Jewish Writings. Hg. Jerome Kohn & Ron Feldman. Schocken, New York 2007.</ref>
Ebenfalls 1932 verfasste sie eine Rezension über das Buch Das Frauenproblem in der Gegenwart von Alice Rühle-Gerstel,<ref>Rezension über Alice Rühle-Gerstel: Das Frauenproblem in der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz. In: Gesellschaft, Jg. 10, Nr. 2, 1932, S. 177–179.</ref> in der sie die Frauenemanzipation im öffentlichen Leben würdigte, ihr jedoch die Beschränkungen – insbesondere in der Ehe und im Arbeitsleben – gegenüberstellte. Sie konstatierte die „faktische Geringschätzung“ der Frau in der Gesellschaft und kritisierte die Pflichten, die mit ihrer Unabhängigkeit nicht zu vereinbaren seien. Der Frauenbewegung stand Hannah Arendt indes distanziert gegenüber. Die politischen Fronten seien „Männerfronten“, betonte sie einerseits. Andererseits sah sie jedoch die „Fragwürdigkeit“ der Frauenbewegung ebenso wie die der Jugendbewegung, weil beide – klassenübergreifend angelegt – dabei scheitern müssten, einflussreiche politische Parteien zu bilden.
Kurz vor Adolf Hitlers Machtantritt versuchte Karl Jaspers, sie in mehreren Briefen davon zu überzeugen, dass sie sich als Deutsche betrachten solle. Dies lehnte sie stets mit dem Hinweis auf ihre Existenz als Jüdin ab. Sie schrieb: „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung.“ Ansonsten fühlte sie sich zur Distanz verpflichtet. Besonders kritisierte sie den von Jaspers gebrauchten Ausdruck „deutsches Wesen“. Jaspers antwortete: „Es ist mir wunderlich, daß Sie als Jüdin sich vom Deutschen unterscheiden wollen.“<ref>Hannah Arendt und Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. München 2001, S. 52 ff.</ref> Diese kontroversen Positionen nahmen beide auch nach dem Krieg ein.
Schon 1931 ging Arendt davon aus, dass die Nationalsozialisten an die Regierung kommen würden, dachte 1932 an Emigration, blieb jedoch zunächst in Deutschland und wurde erstmals politisch aktiv. Ihr Mann, der sich inzwischen Günther Anders nannte, flüchtete im März 1933 nach Paris. Vermittelt durch Kurt Blumenfeld, war Arendt für die Zionistische Vereinigung für Deutschland tätig, um die beginnende Judenverfolgung zu dokumentieren. Ihre Wohnung in Berlin diente Flüchtlingen als Zwischenstation. Im Juli 1933 wurde sie verhaftet und kam für acht Tage in Gestapo-Haft. Gegenüber Günter Gaus äußert sie sich 1964 über ihr Motiv: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.“<ref>Transkript des Interviews Arendt–Gaus, 1964. Zum Verständnis ihres Judentums siehe Iris Pilling: Denken und Handeln als Jüdin. Hannah Arendts politische Theorie vor 1950. Frankfurt a. M. u. a. 1996; und Michael Daxner (2006): Die jüdische Gestalt von Hannah Arendt (PDF; 192 kB).</ref>
Bereits 1933 vertrat sie die Auffassung, dass das nationalsozialistische Regime aktiv zu bekämpfen sei. Sie stand damit im Gegensatz zu vielen gebildeten Deutschen, teilweise sogar mit jüdischem Hintergrund, die sich mit dem NS-Regime arrangieren wollten, die neuen Herrscher manchmal sogar lobten oder die Diktatur zunächst unterschätzten. Im Gaus-Interview<ref name="gaus">Transkript des Interviews Arendt–Gaus, 1964.</ref> drückte sie ihre Verachtung für die umgehende – damals noch freiwillige – „Gleichschaltung“ der meisten Intellektuellen aus. Arendt war davon abgestoßen und wollte mit dieser Art von affirmativen, opportunistischen oder sogar begeisterten Gelehrten nichts gemein haben.
Daraus resultierte auch der Streit mit Leo Strauss, dessen konservative Auffassungen sie ablehnte. Ebenso war sie von Heideggers NS-Engagement enttäuscht, der bereits am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war. Daraufhin brach sie den Kontakt ab und traf ihn erst 1950 wieder. Auch die Freundschaft mit Benno von Wiese beendete sie, als er sich frühzeitig dem Nationalsozialismus zuwandte und ebenfalls 1933 Parteimitglied wurde.<ref>In der Nachkriegszeit nahm Benno von Wiese den Kontakt wieder auf, den A. jedoch nach einigen Jahren ein zweites Mal abbrach wegen seiner öffentlichen Bagatellisierung seiner Beteiligung an der NS-Gleichschaltung. 1933 hatte er sich für die „Entfernung des jüdischen Blutes“ von deutschen Universitäten ausgesprochen. Dieser bisher unveröffentlichte Briefwechsel ist in Auszügen enthalten in: Klaus-Dieter Rossade: „Dem Zeitgeist erlegen.“ Benno von Wiese und der Nationalsozialismus. Synchron, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-935025-81-2 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; Bd. 9)</ref>
Diese Erfahrung der tiefen Entfremdung von Freunden beschrieb sie in ihren Werken und in ihrer Korrespondenz mehrmals. Sie war davon überzeugt, dass es sich jeweils um Willensentscheidungen handelte, für die der Einzelne verantwortlich war. Noch kurz vor ihrem Tod stellte sie fest: Gerade viele professionelle Denker hätten hinsichtlich des Nationalsozialismus versagt, als sie sich für das Regime engagierten. Arendt verlangte nicht von jedem aktiven Widerstand. Schon das Schweigen erkannte sie als Ablehnung der totalen Herrschaft an.<ref>Arendt an Jaspers S. 126 (Mitte 1947)</ref>
Exil, zweite Ehe und Engagement für jüdische Flüchtlinge
Über das tschechische Karlsbad, Genua und Genf emigrierte sie 1933 zunächst nach Frankreich. In Paris war sie, ohne Papiere, wiederum für zionistische Organisationen tätig, die beispielsweise jüdischen Jugendlichen zur Flucht nach Palästina verhalfen. Sie arbeitete wissenschaftlich über den Antisemitismus und hielt Vorträge vor verschiedenen Vereinigungen sowie in der Freien Deutschen Hochschule Paris.
Hannah Arendt und ihr Ehemann hatten schon in Berlin unterschiedliche Interessen und Freundeskreise:<ref>Christian Dries: Günther Anders und Hannah Arendt – eine Beziehungsskizze. In: Günther Anders: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt. Hg. Gerhard Oberschlick, München 2011, S. 71–116.</ref> „Er verkehrt(e) unter Linken, im Umfeld von Brecht“, sie hatte zunehmend Kontakt zu zionistischen und anderen jüdischen Persönlichkeiten.<ref>Christian Dries: Günther Anders und Hannah Arendt – eine Beziehungsskizze. In: Günther Anders: Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt. Hg. Gerhard Oberschlick, München 2011, S. 71–116, hier: S. 80.</ref> Zunächst wohnten beide in Paris zusammen, besuchten gemeinsam die Seminare Alexandre Kojèves und Versammlungen mit anderen Intellektuellen im Exil. Doch die Ehe scheiterte und wurde 1937 geschieden. Bereits 1936 hatte sie Heinrich Blücher kennengelernt, einen ehemaligen Kommunisten, der sich schon früh gegen die Politik Josef Stalins gewandt hatte. In Paris gehörten beide mit Walter Benjamin, dem Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, dem Nervenarzt Fritz Fränkel<ref>Arendt bezeichnete Fränkel gegenüber Scholem als Psychiater. (Brief an Scholem v. 22. September 1945, in: Der Briefwechsel. Hannah Arendt Gerschom Scholem. Berlin 2010, S. 79)</ref> und dem Maler Kurt Heidenreich zu einem Kreis deutscher Flüchtlinge.<ref>Wolfgang Heuer:Hannah Arendt. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 31.</ref>
1937 wurde Arendt die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. 1939 glückte es ihr gerade noch, ihre Mutter aus Königsberg in Sicherheit zu bringen. Im Januar 1940 heiratete sie Heinrich Blücher.<ref>Ausführlich zu beider Beziehung: Bernd Neumann: Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Berlin 1998.</ref> Für Blücher war es die dritte Ehe.
Anfang Mai 1940 wiesen die französischen Behörden über die Presse große Teile der deutschstämmigen Ausländer an, sich zum Abtransport zu melden. Arendt wurde mit vielen anderen Frauen für eine Woche auf dem Gelände des Buffalo-Stadions untergebracht. Bald darauf wurde sie vier Wochen lang im südfranzösischen Lager Gurs interniert, weil sie als „feindliche Ausländerin“ galt. In ihrem Essay Wir Flüchtlinge schreibt sie dazu sarkastisch, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.“<ref>Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge, in: Hannah Arendt: Zur Zeit. Politische Essays, hg. von Marie Luise Knott, München 1989, S. 8f.</ref> Nach etwa einem Monat gelang ihr mit wenigen anderen die Flucht aus Gurs, denn die Wachsamkeit der französischen Lagerverwaltung hatte in der chaotischen Lage, nachdem die Wehrmacht Paris besetzt hatte und nach Süden vorgerückt war, vorübergehend nachgelassen.<ref>Elisabeth Young-Bruehl S. 223 ff und leicht davon abweichend Katrin T. Tenenbaum (Universität Rom) in ihrem Erläuterungen zum von ihr herausgegebenen Briefwechsel zwischen Arendt und Adler-Rudel. (veröffentlicht 2005)</ref> In einem Brief an Salomon Adler-Rudel schilderte Arendt wenig später die Umstände der Internierungen von Flüchtlingen aus NS-Deutschland. Die folgende Zeit verbrachten sie und ihr Mann in Montauban, und Arendt konnte, u.a. mit Hilfe Varian Frys, Papiere für die Ausreise nach Lissabon besorgen.
Im französischen Exil verband sie eine enge Freundschaft mit dem damals noch weitgehend unbekannten Walter Benjamin, den sie auch materiell unterstützte. 1945 – Benjamin hatte sich 1940 das Leben genommen – setzte sie sich vergeblich beim Schocken-Verlag für die Veröffentlichung seiner Werke ein. Erst 1968 konnte sie seine Essays – mit Anmerkungen und einem Vorwort versehen – in den USA herausgeben.<ref>Illuminations. Walter Benjamin. Essays and Reflections. (Hrsg. Hannah Arendt) Schocken, New York 1969.</ref>
Immigration in die USA, Erwerbstätigkeit und Kampf für eine jüdische Armee
Im Mai 1941 erreichten Arendt, ihr Ehemann und ihre Mutter über Lissabon New York. Die Familie wohnte zunächst in Hotelzimmern und lebte von einem geringen Stipendium der zionistischen Flüchtlingsorganisation. Arendt vervollkommnete sehr schnell ihre Kenntnisse der englischen Sprache. Ab Oktober 1941 war sie für das deutsch-jüdische Magazin Aufbau in New York tätig. Sie schrieb regelmäßig eine kurze Kolumne „This means You“ (Das geht dich an). Der Startartikel unter dem Titel Mose and Washington („Moses und Washington“)<ref>Original 27. März 1942, Wiederabdruck im Aufbau Doppelhfeft 12/2008 u. 1/2009, S. 33.</ref> knüpft in der Gestalt des Moses an die jüdische Exilgeschichte an. Arendt argumentiert, dass das moderne (Reform-)Judentum den Bezug zu seiner eigentlichen Tradition verloren habe, ein Motiv, das auch die These ihres Buches über Rahel Varnhagen bildet. Es „wächst bei uns höchst paradoxerweise die Zahl jener, die Moses und David durch Washington oder Napoléon ersetzen“, Juden, die sich auf fremde Kosten (nämlich der Nichtjuden) „verjüngen“ wollten. Kritisch merkt sie an, dass die (jüdische) Geschichte kein Vehikel sei, aus dem man beliebig aussteigen könne; sie fordert, aus dem Judentum einen „Segen“ zu machen, nämlich eine Waffe im Kampf um die Freiheit. Damit wollte sie das politische Bewusstsein der jüdischen Öffentlichkeit in aller Welt wecken. In zahlreichen Artikeln forderte sie den Aufbau einer selbstständigen jüdischen Armee auf Seiten der Alliierten. Mit diesem Verlangen, das sie bereits vor Beginn der Massenmorde in den Konzentrationslagern formulierte, konnten sie und ihre wenigen Mitstreiter sich nicht durchsetzen.
Zwar bezeichnete sich Arendt in dieser Zeit noch als (säkulare) Zionistin, nahm aber eine zunehmend kritische Haltung zur Weltanschauung des Zionismus ein, die sie mit anderen Ideologien wie Sozialismus oder Liberalismus verglich, welche Voraussagen über die Zukunft machten. Sie hielt Freiheit und Gerechtigkeit für Grundprinzipien der Politik, die mit der Vorstellung eines auserwählten Volkes nicht zu vereinbaren seien. Diese Positionen stießen in der jüdischen Öffentlichkeit zumeist auf Ablehnung.<ref>Elisabeth Young-Bruehl S. 250ff. Im Herbst 1945 erschien ihr kritischer Artikel Zionism Reconsidered, in: The Menorah Journal 33. Jahrgang, 1945, Nr. 2, S. 162–196, dessen deutsche Ausgabe erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. (Der Zionismus aus heutiger Sicht. In: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt a.M. 1976, S. 127–168)</ref>
1943 veröffentlichte sie den Essay We Refugees (dt. Wir Flüchtlinge), in dem sie sich mit der verheerenden Situation von Flüchtlingen und Staatenlosen auseinandersetzt, die ohne Rechte „vogelfrei“ seien.
Von 1944 bis 1946 war Hannah Arendt als Forschungsleiterin der Conference on Jewish Relations tätig, anschließend bis 1949 als Lektorin im jüdischen Schocken-Verlag. Am 26. Juli 1948 starb ihre Mutter Martha Arendt während einer Reise zu ihrer Stieftochter Eva Beerwald in England. Von 1949 bis 1952 arbeitete sie als Executive Secretary (Geschäftsführerin) für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts Jewish Cultural Reconstruction Corporation (JCR). Bis Heinrich Blücher 1951 Philosophie-Kurse an einem College erteilen konnte, sorgte Hannah Arendt nahezu allein für den Lebensunterhalt der Familie.
Erste Reisen in die Bundesrepublik und Berichte über die Nachwirkungen des NS-Regimes
1949/50 bereiste Arendt im Auftrag der JCR die Bundesrepublik Deutschland und setzte ihre Kraft dafür ein, die nicht zerstörten jüdischen Kulturgüter, darunter ganze Bibliotheken, nach Israel oder in die USA zu bringen. Arendt traf während dieses Aufenthalts zum ersten Mal seit 1933 Karl Jaspers und Martin Heidegger. Eine zweite Reise folgte 1952. Seitdem fuhr sie jedes Jahr für einige Monate nach Europa, bisweilen auch nach Israel, besuchte viele Freunde und Verwandte, jedes Mal aber Karl und Gertrud Jaspers. Während ihrer Recherchen in der Bundesrepublik stand sie in brieflichem Kontakt mit Gershom Scholem.
In dem Essay Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes<ref>In: Zur Zeit. Politische Essays. Hamburg 1999, S. 43–70. Der Artikel erschien zunächst ausschließlich in den USA.</ref> (1950) schreibt Arendt sehr differenziert über die Nachkriegssituation. Deutschland habe in kurzer Zeit durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte, das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört. Millionen von Menschen aus Osteuropa strömten in das zerstörte Land. „Man kann bezweifeln, ob die Politik der Alliierten, alle deutschen Minderheiten aus nichtdeutschen Ländern zu vertreiben – als ob es nicht schon genug Heimatlosigkeit auf der Welt gäbe – klug gewesen ist; doch außer Zweifel steht, daß bei denjenigen europäischen Völkern, die während des Krieges die mörderische Bevölkerungspolitik Deutschlands zu spüren bekommen hatten, die bloße Vorstellung, mit Deutschen auf demselben Territorium zusammenleben zu müssen, Entsetzen und nicht bloß Wut auslöste.“ Sie stellt eine seltsame Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung fest. Über Europa liege wegen der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager ein Schatten tiefer Trauer. Doch dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken werde nirgends weniger besprochen als in Deutschland. „Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“
Hingegen kursierten zahlreiche Geschichten über die Leiden der Deutschen, die gegen die Leiden der anderen aufgerechnet würden, wobei die „Leidensbilanz“ in Deutschland stillschweigend als ausgeglichen gelte. Die Flucht vor der Verantwortung und die Zuschreibung von Schuld auf die Besatzungsmächte seien weit verbreitet. „Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.“
Arbeiten zur Existenzphilosophie
Nach Kriegsende veröffentlichte Arendt zwei Artikel zur Existenzphilosophie. In The Nation erschien Anfang 1946 der Text French Existentialism, in dem sie vor allem das Denken Albert Camus’ zustimmend und dasjenige Sartres kritisch beleuchtete. Sie äußerte gegenüber Jaspers ihre große Hoffnung auf einen neuen Typus von Menschen, der ohne allen „europäischen Nationalismus“ Europäer ist und sich für einen europäischen Föderalismus einsetzt. Dazu zählte sie Camus aus der französischen Résistance, dem sie in einem Brief Ehrlichkeit und politische Einsicht bescheinigte.<ref>Arendt an Jaspers, 11. November 1946, S. 103., Französische Edition dieses Textes 1946</ref>
Den Artikel Was ist Existenzphilosophie?<ref>Was ist Existenzphilosophie? Wieder Anton Hain, Frankfurt 1990</ref> veröffentlichte sie in den USA (Anfang 1946), auf Französisch in Paris (1947) und in der von Jaspers und anderen gegründeten Zeitschrift Die Wandlung. 1948 kam er zusammen mit fünf weiteren Beiträgen in deren Buchreihe als Essayband heraus. Es handelte sich um die erste Buchveröffentlichung nach ihrer 1929 erschienenen Dissertation.
In dieser Schrift entwickelte Arendt eine eigene Position innerhalb der Existenzphilosophie, verfolgte sie in späteren Werken aber nicht weiter. Als Uwe Johnson 1974 anfragte, ob der Text erneut herausgegeben werden dürfe, fand sie diesen zwar akzeptabel, wollte aber den Abschnitt über Heidegger herausnehmen, woran die Veröffentlichung scheiterte.<ref>Hannah Arendt – Uwe Johnson. Der Briefwechsel. Frankfurt 2004, S. 114</ref> Auch die englische Fassung ließ sie zu Lebzeiten nicht wieder auflegen.
Arendt setzt sich in dieser kleinen Arbeit kritisch mit der Philosophie Martin Heideggers auseinander, dem sie eine Nähe zum modernen Nihilismus zuschreibt. Seine Lehre des Seins habe er niemals wirklich vollendet. Mit der Analyse des Daseins vom Tode her begründe Heidegger die Nichtigkeit des Seins. Der Mensch werde gottähnlich beschrieben, zwar nicht als „Welt-erschaffendes“, aber als „Welt-zerstörendes“ Wesen. Arendt wendet dagegen ein, dass „der Mensch Gott nicht ist und mit seinesgleichen zusammen in einer Welt lebt“, ein Gedanke, den sie später noch oft wiederholen wird. Heidegger umgehe die vorläufigen Kantschen Begriffe von Freiheit, Menschenwürde und Vernunft, reduziere den Menschen auf seine Funktionen in der Welt und spreche ihm Existenz allein durch das Philosophieren zu. Darüber hinaus kritisiert sie Heideggers „mythologisierende Unbegriffe“ wie „Volk“ und „Erde“, die er in Vorlesungen der 1930er Jahre seinen „isolierten Selbsten“ nachträglich als gemeinsame Grundlage untergeschoben habe. Es sei evident, dass „derartige Konzeptionen nur aus der Philosophie heraus, und in irgendeinen naturalistischen Aberglauben hineinführen“.
Die Existenzphilosophie Karl Jaspers’ hingegen beschreibt sie ausschließlich positiv. Er vollziehe einen Bruch mit allen philosophischen Systemen, mit Weltanschauungen und „Lehren vom Ganzen“, setze sich mit „Grenzsituationen“ auseinander und betrachte die Existenz als eine Form der Freiheit. Der Mensch könne sich „in spielender Metaphysik“ an die Grenzen des Denkbaren herantasten und sie überschreiten. Im Gegensatz zu Heidegger sei für Jaspers das Philosophieren lediglich die Vorbereitung auf das „Tun“ durch die Kommunikation auf der Basis der allen gemeinsamen Vernunft. Jaspers wisse, dass das Denken der Transzendenz zum Scheitern verurteilt ist. Die Jaspersche Philosophie, unterstreicht die Autorin, liegt im Wesentlichen in den Wegen seines Philosophierens. Diese können aus den „Sackgassen eines positivistischen oder nihilistischen Fanatismus“ herausführen.
Stellungnahmen zu Palästina und Israel
Hannah Arendt schrieb Ende 1948 den Artikel Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten? (veröffentlicht in den USA im Januar 1950). Darin setzt sie sich mit der Geschichte Palästinas und der Gründung des Staates Israel auseinander. Frieden kann demnach nur durch Verständigung und faire Vereinbarungen zwischen Arabern und Juden erreicht werden. Sie beschreibt die Einwanderungsgeschichte seit 1907 und betont, dass sich bisher beide Gruppen feindselig gegenüberstanden und sich – auch wegen der Besetzung durch die Türken und später die Briten – niemals als gleichberechtigte Partner oder auch nur als Menschen angesehen haben. Während sie die „Heimatlosigkeit“ und „Weltlosigkeit“ als größte Probleme der Juden beschreibt, kritisiert sie die meisten zionistischen Führer, da sie die Probleme der arabischen Bevölkerung übersehen hätten.
Ihre Vision ist ein binationales Palästina auf der Grundlage nicht-nationalistischer Politik, eine Föderation, die möglicherweise andere Staaten des Nahen Ostens umfassen könnte. Die Einwanderung und die Vertreibung eines Teils der arabischstämmigen Bevölkerung stellen eine moralische Hypothek dar, während die auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhenden Kollektivsiedlungen (Kibbuzim) und die Hebräische Universität sowie die Industrialisierung auf der Habenseite stehen.
Israel konnte sich Arendt zufolge von den Gesetzen des Kapitalismus befreien, da es durch Spendengelder aus den USA finanziert werde und daher nicht dem Gesetz der Profitmaximierung unterliege. Ihre Sorge nach dem gewonnenen Palästinakrieg, der Unglück über Juden und Araber gebracht und alle jüdisch-arabischen Wirtschaftssektoren zerstört habe, besteht darin, dass Israel eine aggressive expansionistische Politik betreiben könne. Doch hofft sie auf den universalistischen Geist im Judentum und auf verständigungsbereite Kräfte in den arabischen Staaten.<ref>Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten. In: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze. Berlin 1991, S. 39–75.</ref>
Es gab in dieser Zeit nur sehr wenige Persönlichkeiten auf arabischer und jüdischer Seite, die für ein binationales Palästina eintraten. Arendt bezieht sich auf den ersten Präsidenten der Hebräischen Universität Judah Leon Magnes<ref>In Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten.: Juda Leib Magnes</ref> sowie den libanesischen Politiker und Philosophieprofessor Charles Malik und streicht deren Einmaligkeit heraus. Beide setzten sich für eine jüdisch-arabische Übereinkunft zur Lösung des Palästinaproblems ein, Magnes 1946 und Malik vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Mai 1948.
Als im Dezember 1948 der ehemalige Führer der zionistischen Terror-Organisation Irgun Menachem Begin New York besuchte, um Spenden für seine neugegründete Cherut-Partei zu sammeln, verfassten 26 Intellektuelle, darunter viele mit jüdischem Hintergrund, einen scharf formulierten Leserbrief, der am 4. Dezember 1948 in der New York Times veröffentlicht wurde.<ref>Hannah Arendt u. a.: Der Besuch Menahem Begins und die Ziele seiner politischen Bewegung. Offener Brief an die „New York Times“. In: Israel, Palästina …, S. 117 ff. Online-Text</ref> Zu den Unterzeichnern gehörten neben Arendt u. a. Isidore Abramowitz, Albert Einstein, Sidney Hook und Stefan Wolpe. Sie warnten eindringlich vor dieser Partei und charakterisierten sie als faschistisch und terroristisch. Als schockierendes Beispiel für Charakter und Vorgehensweise der Organisation erwähnen sie auch das von Begin kommandierte Massaker von Deir Yasin.
An ihre Freundin, die US-amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy, schrieb Arendt mehr als zwanzig Jahre später, Israel sei ein eindrucksvolles Beispiel für die Gleichheit der Menschen. Für noch wichtiger hielt sie die „Überlebensleidenschaft“ des jüdischen Volkes seit der Antike. Sie befürchtete, dass sich der Holocaust wiederholen könne. Als Rückzugsort und wegen des unausrottbaren Antisemitismus sei Israel notwendig. Arendt betont, dass jede wirkliche Katastrophe in Israel sie mehr berühre als fast alles andere.<ref>Hannah Arendt, Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975. München 1997, S. 365 f. (Okt. 1969)</ref>
Formen totaler Herrschaft
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg begann Arendt mit der Arbeit an einer umfassenden Studie über den Nationalsozialismus, 1948 und 1949 ausgeweitet auf den Stalinismus. Das Buch enthält die drei Teile Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft. Während Arendt für die beiden ersten Teile in hohem Maße auf vorhandenes historisches und literarisches Quellenmaterial zurückgreifen konnte, musste sie sich den Hintergrund für den dritten Teil neu erarbeiten.<ref>Arendt an Jaspers S. 134.</ref> 1951 erschien die amerikanische Ausgabe unter dem Titel: The Origins of Totalitarianism. Die von ihr selbst bearbeitete, teilweise vom Original abweichende deutsche Fassung (1955) nannte sie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Ihr Werk bearbeitete und erweiterte sie bis zur Edition der dritten Auflage 1966. Die Arbeit stellt keine reine Geschichtsschreibung dar. Vielmehr kritisiert sie das Kausalitätsdenken der meisten Historiker und bemerkt: Alle Versuche von Geschichtswissenschaftlern, den Antisemitismus zu erklären, seien bisher unzulänglich gewesen.
Sie stellt die neuartige und viel diskutierte These auf, dass sich totalitäre Bewegungen jeder Weltanschauung und Ideologie bemächtigen und sie durch Terror in eine neue Staatsform überführen können. Geschichtlich vollständig realisieren konnten dies ihrer Ansicht nach bis 1966 lediglich der Nationalsozialismus und der Stalinismus.
Im Gegensatz zu anderen Autoren sieht Arendt ausschließlich diese beiden Systeme als totalitär an, nicht aber Einparteiendiktaturen wie den italienischen Faschismus, den Franquismus oder das Nachkriegsregime in der Deutschen Demokratischen Republik. Sie stellt die neue Qualität der totalen Herrschaft gegenüber gewöhnlichen Diktaturen heraus. Erstere beziehen sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, nicht nur auf die politischen. Im Zentrum stehe eine Massenbewegung. Im Nationalsozialismus habe eine völlige Verkehrung der Rechtsordnung geherrscht. Verbrechen, Massenmorde<ref>Arendt benutzt auch den Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit“, wie Karl Jaspers und sie den Ausdruck der Alliierten: „crime against humanity“ – in Abgrenzung zu der gebräuchlicheren Fassung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – übersetzten.</ref> seien die Regel gewesen. Neben dem Terror hält sie das Streben nach Weltherrschaft für ein wichtiges Kennzeichen der totalen Herrschaft.
Sie arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund der Massengesellschaft und des Zerfalls der Nationalstaaten durch den Imperialismus traditionelle Politikformen, insbesondere die Parteien, den totalitären Bewegungen mit ihren neuen Techniken der Massenpropaganda unterlegen waren.
Neben historischen benutzt Arendt auch literarische Quellen wie beispielsweise Marcel Proust und setzt sich mit zahlreichen Denkern seit der Antike auseinander, mit Kant ebenso wie mit Montesquieu. Sie verwendet ihre Methode „des buchstäblichen Ernstnehmens ideologischer Meinungen“. Die Äußerungen totalitärer Ideologen seien von vielen Beobachtern unterschätzt worden.<ref>Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper, München-Zürich 1986 (TB), 17. Aufl. 2014 S. 968.</ref>
Die Beschreibungen der totalen Herrschaft dienten vor allem Politikwissenschaftlern dazu, Theorien des Totalitarismus zu entwickeln, die z. T. weit über die strenge Definition Arendts hinausgehen.
US-Staatsbürgerschaft, berufliche Position und politische Stellungnahmen
1951 wurde Hannah Arendt Staatsbürgerin der USA. Unter dem Status der Staatenlosigkeit hatte sie sehr gelitten, weil sie ihn als einen Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft ansah. Die Staatsbürgerschaft bedeutete für sie „das Recht, Rechte zu haben.“<ref>Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper, München-Zürich 1986 (TB), 17. Aufl. 2014 S. 614.</ref> Daher forderte sie eine Ergänzung zur amerikanischen Verfassung, dass niemand seine Staatsangehörigkeit verlieren dürfe, wenn er dadurch staatenlos wird.
In Deutschland hatte sich Hannah Arendt Anfang 1933 auf dem Weg zu einer normalen akademischen Karriere mit einer ordentlichen Professur befunden. Der Nationalsozialismus machte diese Pläne zunichte. Arendt betont in ihren Briefen, bis wenige Jahre vor ihrem Tod, sie verfüge weder über Besitz noch über eine Stellung, was nach ihrer Auffassung zur Unabhängigkeit ihres Denkens beitrug.
Immer wieder zeigte sie persönlichen Mut, z. B. durch ihre praktischen Tätigkeiten für jüdische Organisationen während der Zeit des Nationalsozialismus. Ihre öffentlichen und persönlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren häufig unter Gegnern, aber auch Freunden umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft.
In einer auf 1948 zu datierenden kurzen Aufzeichnung Memo on research benennt Arendt die wichtigsten zeitgenössischen politischen Themen. Sie unterscheidet zentrale politische Probleme der Zeit:
- „Totalitarismus, die Rassenfrage, der Verfall des europäischen nationalstaatlichen Systems, die Emanzipation der Kolonialvölker, die Liquidierung des Britischen Imperialismus.“
und rein jüdische Probleme:
- „Antisemitismus, die Palästina-Angelegenheit, Fluchtbewegungen, Heimatlosigkeit, etc.“<ref>In der engl. Originalfassung: “Totalitarism, the race question, the decay of the European nation state system, the emancipation of colonial peoples, the liquidation of British imperialism” und “Antisemitism, the Palestine issue, migrations, homelessness, etc.” Zit. nach: I. Pilling S. 13 f. Es handelt sich um eine Dissertation, die größtenteils auf veröffentlichten und unveröffentlichten Originalquellen beruht.</ref>
Etwas früher, 1947, schrieb sie an Jaspers:
„Unter freien Umständen sollte eigentlich jeder einzelne entscheiden dürfen, was er nun gerne sein möchte, Deutscher oder Jude oder was immer öffentliche Freiheit, öffentliches Glück, öffentlicher Geist.“<ref>ÜdR -TB- 1974, S. 284, 286.</ref>
Arendt stellt die Frage, warum der „Geist der Revolution“ keine Institutionen fand und daher verloren ging. Dabei geht sie von Thomas Jefferson aus, der nach seiner Amtszeit als dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika das Geschehene in Briefen reflektierte. Als Lösungsansatz betrachtet sie Jeffersons ward-system, das sie auch „Elementarrepubliken“ nennt.
Laut Jefferson gab es nach der Amerikanischen Revolution und der Einführung der Verfassung keine Institution, in der das Volk einen Beitrag zu öffentlichen Angelegenheiten leisten konnte. Das uralte Verhältnis von Regierten und Regierenden bestand weiter fort. Während und vor der Amerikanischen Revolution konnte das Volk in den townhalls aktiv am politischen Geschehen teilnehmen. Von dieser Möglichkeit machten die Einwanderer regen Gebrauch. Nach der Revolution jedoch bezogen sich die Menschen mehr und mehr auf ihr Privatleben, verfolgten ihre Privatinteressen und interessierten sich weniger für die öffentlichen Angelegenheiten.
Als Alternative zur repräsentativen Parteiendemokratie befürwortet Arendt eine Räterepublik. Erstere sei unfähig, das Volk am politischen Leben teilnehmen zu lassen. Auf Grund der Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnet sie das Mehrparteiensystem als noch unattraktiver als das englische oder amerikanische Zweiparteiensystem, da es im Wesen die Ein-Partei-Diktatur in sich trage.
Elemente des Rätesystems tauchen nach Arendt in fast allen Revolutionen auf, bis auf die Februarrevolution und die Märzrevolution 1848. Die Räte beschreibt sie als friedlich, parteilos und daran interessiert, einen neuen Staat aufzubauen. Die Parteien, ob links, rechts oder revolutionär, sahen in den Räten oder Sowjets eine starke Konkurrenz, agitierten gegen sie und konnten sie mit staatlicher Hilfe letztendlich immer vernichten.
Hannah Arendt favorisiert dieses politische System direkter Demokratie, weil die Menschen sich in den Parteiendemokratien als Regierte fühlen – und das war gerade nicht der Sinn der Revolutionen. Dagegen kommt die Möglichkeit der politischen Teilnahme auf unterschiedlichen Ebenen Arendts Vorstellungen des Politischen wesentlich näher.
Sie hebt hervor, „daß keiner glücklich genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht“.<ref>ÜdR -TB- 1974, S. 326f.</ref>
Denken, Wollen, Urteilen
Die 1989 posthum veröffentlichten Werke Das Denken und Das Wollen erschienen 1998 in dem Sammelband Vom Leben des Geistes. Diese Arbeit beruht wiederum auf Vorlesungen, die sie 1973 und 1974 gehalten hat. Der dritte Teil Das Urteilen wurde nach Vorarbeiten seitens ihrer Nachlassverwalterin Mary McCarthy von dem Politikwissenschaftler Ronald Beiner auf der Grundlage der Manuskripte ihrer Vorlesungen zu Kant, insbesondere aus dem Jahr 1970, zusammengestellt.
Arendt will, wie sie in der Einleitung schreibt, mit diesem anspruchsvollen Titel nicht als „Philosoph“, als „Denker von Gewerbe“ (Kant) wirken, aber das Denken auch nicht diesen überlassen. Anlass für ihre Studien war u. a. ihr Eichmann-Buch, in dem sie sich mit den „ungeheuerlichen Taten“ eines „gewöhnlichen“, „gedankenlosen“ Täters beschäftigt hatte. Dies führte zu der Frage, ob das Denken, d. h. die Gewohnheit, alles zu untersuchen, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse, zu den Bedingungen gehört, die die Menschen davor schützen, Böses zu tun.<ref>Vom Leben des Geistes. (LdG) München, Zürich 1998 -TB-, S. 14f.</ref>
Das Denken
In ihrem bereits zur Veröffentlichung fertiggestellten Werk über Das Denken erweiterte Arendt die Ideen aus Vita activa, indem sie nunmehr die „Vita contemplativa“, d .h. geistige Tätigkeiten, als ebenbürtig oder sogar überlegen beschreibt. Sie versucht, ihre Aussage im Eichmann-Buch über die „Banalität des Bösen“ mit der These zu untermauern, diese Art bösen Handelns sei mit dem „Fehlen des Denkens“ mit der „Gedankenlosigkeit“ verknüpft. Sie stellt folgende Frage:
„Könnte vielleicht das Denken als solches – die Gewohnheit, alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse und den speziellen Inhalt – zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?“<ref>LdG 1998 -TB-, S. 15.</ref>
Als Motto stellte sie der Einleitung einen kurzen Text aus Heideggers Was heißt Denken? voran, in dem dieser die Bedeutung des Denkens an sich hervorhebt.
Wiederum verfolgt sie Begriffe zu ihrem Ursprung zurück. Ethik und Moral, so Arendt, sind die griechischen bzw. lateinischen Ausdrücke für Sitte und Gewohnheit. Gewissen dagegen bedeute „bei sich wissen“ und gehöre zu jedem Denkvorgang. Nur „gute Menschen“ hält sie für fähig, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, während Kriminelle in der Regel über ein gutes Gewissen verfügten. Ethik und Moral (wörtlich: Sitten und Gewohnheiten) seien hauptsächlich von der entgegengesetzten Prämisse ausgegangen.
Angelehnt an Sokrates<ref>Zit. nach Platons Frühwerk Gorgias, wobei sie zwischen der dialogischen Philosophie des Sokrates und dem geschlossenen Weltbild Platons unterscheidet.</ref> findet sich bereits bei Demokrit die Aussage: „Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun“, entwickelt sie den Gedanken des inneren Gesprächs, wobei das Individuum sich davor hüten müsse, mit sich selbst in Zwiespalt zu geraten, um seine Selbstachtung zu bewahren, auch wenn viele Menschen sich anders entscheiden.
„Als Bürger müssen wir schlechte Taten verhindern, weil es um die Welt geht, in der wir alle leben, der Übeltäter, das Opfer und die Zuschauer.“<ref>Zitat: LdG 1998 -TB-, S. 181, Text: LdG 1998 -TB-, S. 180ff.</ref>
Zum Handeln gehöre seit der Antike das Denken. Arendt grenzt ihr Verständnis vom Denken sowohl von Platon und Aristoteles, die das Denken als passive Betrachtung verstanden hätten, wie auch vom Christentum ab, das die Philosophie zur „Magd der Theologie“ und das Denken zur Meditation und Kontemplation gemacht habe. Auch dem Ansatz der Neuzeit, in der das Denken hauptsächlich der Erfahrungswissenschaft diene, steht sie kritisch gegenüber. Die Mathematik hält sie als reines Denken für die „Königin der Wissenschaften“.<ref>LdG 1998 -TB-, S. 18.</ref> Sie kritisiert die Hegemonie der Naturwissenschaften als Erklärungsmodell aller „Erscheinungen“, auch der gesellschaftlichen und politischen, und betont die Wichtigkeit des Nachdenkens über die Bedingtheit des menschlichen Lebens.
Die Bedeutung des Denkens im öffentlichen Leben trete in der modernen Gesellschaft, die immer mehr zur Arbeitswelt werde, weitgehend zurück. Die „vita activa“, das Herstellen und Handeln, siege über die „vita contemplativa“, die Suche nach dem Sinn, die einstmals – insbesondere im Mittelalter – vorrangig gewesen sei. Der Mensch gerate in eine Zwickmühle, da einerseits die Individualität gerade in der demokratischen Massengesellschaft betont werde, andererseits die Massengesellschaft den Diskussionen im öffentlichen Raum Grenzen setze.
In dieser auf Vorlesungen beruhenden Abhandlung setzte sie sich mit zahlreichen bedeutenden Philosophen auseinander, die über das Denken – als Betrachten des Seins – Auskunft gegeben haben. Dabei behandelte sie die großen Denker lebenslang, genauso wie Jaspers, als wären sie Zeitgenossen.
Während das Denken als Unsichtbares in aller Erfahrung gegenwärtig sei und dazu neige, zu verallgemeinern, stünden die anderen beiden geistigen Tätigkeiten der „Erscheinungswelt“ viel näher, weil es immer um „einzelnes“ gehe: um das Urteilen über die Vergangenheit, dessen Ergebnis die Vorbereitung für das Wollen darstelle.
Das Wollen
Laut Arendt beruht der Wille auf dem kreatürlichen Begehren wie auch auf dem vernünftigen Denken. Sie betont die Bedeutung des Willens als ein dem Menschen eigenes Talent, das Alte zu überwinden, um mit dem Neuen beginnen zu können. Dieser Wille, verbunden mit der Gebürtlichkeit nicht gleicher, sondern voneinander abweichend denkender Menschen („Differenz“), ermögliche einerseits Freiheit, berge aber andererseits die Gefahr des rein spontanen, intuitiven Handelns. Sie stellt fest: „Die freien Handlungen des Menschen sind selten.“<ref>LdG 1998 -TB-, S. 209.</ref>
Dem Begriff des Willens geht sie anhand seiner Geschichte nach. Er sei in der griechischen Antike unbekannt gewesen und habe erst in der Neuzeit im Zusammenhang mit dem der Innerlichkeit („die innere Erfahrung“) große Bedeutung gewonnen.
Parallel dazu untersucht sie das Wollen als inneres Vermögen der Menschen zu entscheiden, in welcher Gestalt sie sich in der „Erscheinungswelt“ zeigen möchten. Der Wille schafft demnach mit seinen Projekten sozusagen die „Person“, die für ihren Charakter (ihr ganzes „Sein“) verantwortlich gemacht werden kann. Sie grenzt sich hier von den einflussreichen marxistischen und existentialistischen Thesen ab, die den Menschen als Schöpfer seiner selbst darstellen. Dieser Trugschluss entspreche der modernen Betonung des Wollens als Ersatz für das Denken.
Das Urteilen
Wie bereits dreißig Jahre zuvor in ihrer Arbeit zur Existenzphilosophie Heideggers und Jaspers’ bezieht Arendt Stellung im mittelalterlichen Universalienstreit und zwar wiederum zugunsten des Nominalismus. In ihrem nicht autorisierten posthum veröffentlichten Fragment Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie reflektiert sie das Zustandekommen von Urteilen als subjektiv. Sie setzt sich mit Kants Theorie des „ästhetischen Urteils“ in der Kritik der Urteilskraft auseinander, wobei sie das ästhetische Urteil als Vorbild für das politische Urteilen ansieht. Dieses Urteil beruhe auf dem Denken ohne die Vermittlung durch einen Begriff oder ein System. Als Beispiel führt Arendt an, dass, wenn man eine Rose als schön bezeichne, man zu diesem Urteil komme ohne die Verallgemeinerung, dass alle Rosen schön sind und daher diese eine auch.<ref>Das Urteilen. (DU) München, 1998 -TB-, S. 25; vgl. auch S. 89.</ref> Es gibt also keine Kategorie „Rosen“ bzw. eine „Natur der Rose“, vielmehr immer nur die einzelne Rose, die von jeder Person aus ihrer eigenen Perspektive beurteilt wird. Die Erkenntnis der unterschiedlichen Standpunkte bezeichnet sie als „repräsentatives Denken“. Dieses Denken setze voraus, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der eigene ist, ohne die eigene Identität aufzugeben.
Urteile beruhten danach nicht auf einer bestimmten verinnerlichten Moralvorstellung. Das Urteilsvermögen, zu dem der Mensch im Stande ist, hat nach Arendts Verständnis etwas mit der Fähigkeit zu tun, den Standpunkt des anderen einzunehmen und dabei vom eigenen Willen abzusehen.<ref>siehe auch; Linda M. G. Zerilli: Einsicht in die Perspektive. Nach dem Ende aller Maßstäbe: Hannah Arendts Überlegungen zur demokratischen Urteilskraft sind von ungebrochener Aktualität. In: Frankfurter Rundschau, 7. Januar 2006, und dieselbe „Wir fühlen unsere Freiheit.“ Einbildungskraft und Urteil im Denken Hannah Arendts, (PDF; 175 kB) 2004, sowie Annette Vowinckel: Hannah Arendt. Leipzig 2006, S. 98ff.</ref>
Wirkung
Berühmt wurde Hannah Arendt mit ihrem Totalitarismusbuch. Dieses Werk, das heute zum Standard politischer Bildung gehört, brachte ihr viel Zustimmung und zahlreiche Vortragseinladungen ein. „Sie war die erste Theoretikerin, die das Phänomen des Totalitarismus als eine in der Menschheitsgeschichte völlig neue Form politischer Macht verstand.“<ref>Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998, S. 9.</ref> Es diente teilweise als Grundlage für einen erweiterten Totalitarismusbegriff und als Argument gegen die nachstalinistische Sowjetunion im Kalten Krieg. Sie geriet damit immer wieder in die Kritik von eher orthodoxen Sozialisten.
Gleichzeitig wurden in Fachkreisen, aber auch in Teilen der Linken nicht nur ihre Forschungsergebnisse über den Nationalsozialismus geschätzt, sondern auch ihre frühen Analysen des Stalinismus als totalitäres System. Insbesondere in den USA und in Frankreich haben diese Debatten die Entwicklung einer undogmatischen Neuen Linken gefördert.
Der amerikanische Literaturwissenschaftler und palästinensische Aktivist Edward Said, der über den Postkolonialismus arbeitete, zählte Hannah Arendt auf Grund ihrer Rezeption des Schriftstellers Joseph Conrad in The Origins of Totalitarianism<ref>siehe: EuU 1986 -TB-, S. 407–413 und Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Unterabschnitt: Einbeziehung des Rassismus in den weltweiten Imperialismusbegriff</ref> zu den Theoretikern des Imperialismus, die sich sowohl „imperialistisch als auch antiimperialistisch“ orientieren.
Ihr Lehrer Karl Jaspers bezeichnete das Buch im Vorwort zur dritten Auflage als „Geschichtsschreibung im großen Stil“. Es sei mit den Mitteln historischer Forschung und soziologischer Analyse erarbeitet. Das Werk gebe „die Einsicht, durch welche eine philosophische Denkungsart in der politischen Wirklichkeit erst urteilsfähig wird“. Arendt erteile keine Ratschläge, sondern vermittele Erkenntnisse, die der Menschenwürde und Vernunft dienen.
Vor allem in den 1960er Jahren verursachte ihre Reportage über den Eichmann-Prozess in Jerusalem heftige Kontroversen. Die Memoiren Eichmanns,<ref>Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay. Frankfurt a. M. 2004.</ref> die seinen starken eigenständigen Antisemitismus belegen, standen Hannah Arendt bei der Verfassung der Zeitungsberichte und des Buches noch nicht zur Verfügung. Heute wird in einem großen Teil der Rezeption darauf hingewiesen, dass Arendt Eichmanns Antisemitismus als Motiv unterschätzt habe. Auch gegenwärtig wird diese Arbeit oft abgelehnt oder ignoriert, findet jedoch andererseits – wie alle Werke Arendts – mehr und mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit. So hob z. B. Jan Philipp Reemtsma 1998 hervor, dass sich spätestens seit Arendts Eichmann-Buch die „Pathologisierung der Täter“ als untauglicher Erklärungsversuch erwiesen habe.<ref>Jan Philipp Reemtsma: Laudatio für Saul Friedländer anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1998.</ref> Bis heute gibt es eine kritische Debatte darüber, wie sie Autoren und deren Texte oft nur auf eine Textstelle hin und ohne Kontext rezipiert, vom Augustinus- über das Totalitarismus-Buch bis zu ihren letzten Veröffentlichungen. Manchmal nennt sie die Umstände in Anmerkungen, häufig nicht, fast immer setzt sie Kenntnisse über Autoren voraus.
Jürgen Habermas nahm Hannah Arendt in seine philosophisch-politischen Profile bedeutender Autoren des 20. Jahrhunderts auf, die die Richtung seines Denkens bestimmt hätten. Neben Scholem und Bloch spricht er in Bezug auf Arendt von „faszinierende(r) Bewunderung für den wegweisenden Geist“.<ref>Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile.(1981), Suhrkamp TB, Frankfurt a.M. 1987, S. 10.</ref> Seine sowohl positive als auch kritische Haltung kommt zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Von Hannah Arendt habe ich gelernt, wie eine Theorie des kommunikativen Handelns anzugehen ist; was ich nicht zu sehen vermag, ist, daß dieser Zugang im Widerspruch stehen soll zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft.“<ref>Jürgen Habermas 1981 a.a.O., S. 405.</ref> Er bezeichnete Jaspers und Arendt als „unerschrockene Radikaldemokraten“ mit „elitärer Mentalität“.<ref>Jürgen Habermas 1981 a.a.O., S. 236.</ref> Differenziert setzte er sich bereits seit den 1960er Jahren – wie auch in seinem großen Werk Faktizität und Geltung (1992)<ref>Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M. 1992, insbesondere S. 182–187, 327, 605, 622.</ref> – mit ihrer politischen Theorie auseinander, indem er ihre Thesen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, mehr noch in Vita activa und Über die Revolution, aber auch in ihren späteren, zu Lebzeiten noch nicht veröffentlichten Arbeiten darstellte, teilweise adaptierte, teilweise verwarf oder weiterentwickelte.
Der Soziologe Hauke Brunkhorst befasste sich 1999 mit dem Verhältnis zwischen Habermas und Arendt. Habermas habe Übereinstimmungen seiner Theorie kommunikativen Handelns mit Arendts Theorie der Macht und Gewalt entdeckt, halte aber Distanz zu ihrem Aristotelismus und zu ihrer Kritik an der Französischen Revolution.<ref>Hauke Brunkhorst:Hannah Arendt. München 1999.</ref>
Die Habermas-Schüler Helmut Dubiel, Ulrich Rödel und Günter Frankenberg haben in Die demokratische Frage (1990) versucht, „mit Hilfe von Arendt das Demokratiedefizit der älteren kritischen Theorie zu reparieren“.<ref>Hauke Brunkhorst: Hannah Arendt. München 1999, S. 150.</ref> Damit begann nach Brunkhorst die große Wirkung von Hannah Arendt in den achtziger Jahren, als die civil society (Zivilgesellschaft) auf der Tagesordnung stand. Anlass war demnach einerseits die neoliberale Politik Ronald Reagans und Margaret Thatchers und andererseits die Politik der Sowjetunion.
Seyla Benhabib fragt sich, wie die Arendt-Renaissance zu erklären ist. „Nach dem Fall des autoritären Kommunismus und seitdem die marxistische Theorie weltweit den Rückzug angetreten hat, erwies sich Hannah Arendts Denken als die kritische politische Theorie des posttotalitären Augenblicks.“ Auch für die moderne Frauenbewegung sei Arendt „ein beeindruckendes und geheimnisvolles Vorbild, eine unserer ‚früheren Mütter‘“.<ref>Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998, S. 18 u. 21.</ref> Die feministische Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren hatte sich hingegen kaum auf Arendt bezogen.
Im Jahre 1998 kritisierte Walter Laqueur den „Arendt-Kult“, insbesondere in Deutschland. Besonders auf Schriftstellerinnen übe sie eine Faszination aus, werde als Heldin betrachtet, als größte Philosophin unserer Tage oder aller Zeiten, was sie eventuell auch gewesen sei. „Man erkennt eine faszinierende Diskrepanz zwischen Arendt als politischer Philosophin und ihrem mangelnden Urteilsvermögen in Bezug auf die aktuelle politische Situation.“ Er spricht in diesem Zusammenhang von „gewohnheitsmäßigen Fehleinschätzungen“, wirft ihr, wie Scholem, ihre Haltung zu Israel und Palästina vor und konstatiert mit scharfen Worten eine Distanz zum Judentum.<ref>Walter Laqueur: The Arendt Cult. Hannah Arendt as a Political Commentator. In: Journal of Contemporary History. Bd. 33, Nr. 4, 1998, S. 485, dt.: Der Arendt-Kult. Hannah Arendt als politische Kommentatorin. In: Europaeische Rundschau. Wien. 26. Jahrg. Heft 4, Herbst 1998, S. 111–125.</ref>
2005 zählte Ralf Dahrendorf Hannah Arendt mit Einschränkungen zu den wenigen eigenständigen humanistischen und freiheitlichen Denkern des vorigen Jahrhunderts.
Ihr wurde häufig vorgehalten, sie unterschätze die sozialen Fragen. 1972 entgegnete sie in einem Gespräch mit Freunden darauf, beispielsweise der Wohnungsbau sei eine Frage der Verwaltung, enthalte aber auch politische Aspekte wie das Integrationsproblem.<ref>Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München u.a. 1996, S. 77ff.</ref> Sie selbst hat ihr – radikal Traditionen und Weltanschauungen in Frage stellendes – Denken immer wieder ausdrücklich auf das Politische beschränkt. Rahel Jaeggi setzte sich 2008 mit dem politischen Denken in Kontrast und in Verbindung zum sozialen auseinander.<ref>Jahel Jaeggi: Wie weiter mit Hannah Arendt? Hamburger Edition. Hamburg 2008, S. 16ff</ref>
Elisabeth Young-Bruehl verwies 2006 darauf, dass Arendts politisches Konzept des Vergebens und des Neubeginnens fünfzehn Jahre nach ihrem Tod in der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Südafrika umgesetzt wurde: „Her ideas about forgiveness and her book on Eichmann influenced and were reflected in the action, the new beginning, that brought the South African Truth and Reconciliation Commission (TRC), which, for the first time in history, made forgiveness a guiding principle for a state.“<ref>Elisabeth Young-Bruehl: Why Arendt Matters. London 2006, S. 112 (dt.: ihre Vorstellungen zu Vergebung und ihr Buch über Eichmann beeinflussten und spiegelten sich wider bei der Einführung, dem Neubeginn, der die South African Truth and Reconciliation Commission (TRC) hervorbrachte, welche, zum ersten Mal in der Geschichte, Vergebung zu einem leitenden Prinzip für einen Staat machte.)</ref>
Es existiert keine philosophische oder politologische Schule, die sich auf Hannah Arendt beruft. Ihr weit verzweigtes Werk bietet die Möglichkeit, passende Versatzstücke für die Begründung der eigenen Position herauszugreifen. Nach eigener Auskunft war sie – anders als viele bedeutende intellektuelle Zeitgenossen – niemals Sozialistin oder Kommunistin, andererseits aber auch nicht durchgängig Zionistin und passte auch in kein anderes Schema hinein. Daher gab es lange Zeit nur wenige Wissenschaftler, wie Jürgen Habermas und Ernst Vollrath,<ref>Antonia Grunenberg: Ernst Vollrath – Denkwege und Aufbrüche. Rede zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises 2001 (Memento vom 29. Januar 2004 im Internet Archive)</ref> die ihr Gesamtwerk ernst nahmen.
Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. In den Zeiten der Postmoderne werden ihr individuelles „Denken ohne Geländer“, ihre Ausführungen über Pluralität und Vielstimmigkeit eher geschätzt, auch weil – wie häufig angemerkt wird – ihr Denk- und ihr Lebensweg ein hohes Maß an Übereinstimmung aufweisen.<ref>Eine differenzierte Darstellung der Wirkungsgeschichte bietet: Thomas Wild: Hannah Arendt. Leben Werk Wirkung. Frankfurt a. M. 2006, S. 120–138.</ref> Etwa seit 1945 konnte Arendt in den USA durchgängig in großem Umfang publizieren, seit 1953 akademisch lehren und in der Öffentlichkeit eine bedeutende Stellung als politische Intellektuelle einnehmen, eine Tatsache, die Thomas Wild folgendermaßen kommentiert: „Eine «Karriere» dieser Art wäre für eine Frau in den Ländern des alten Europas zu jener Zeit kaum vorstellbar gewesen.“<ref>Thomas Wild: Hannah Arendt. Leben Werk Wirkung. Frankfurt a. M. 2006, S. 128.</ref>
Erbe und weitere Namensverwendung
Ihre Bibliothek, die beinahe 4000 Bücher u. a. Papiere umfasste, befindet sich seit 1976 im Bard College in New York, das eine Übersicht digitalisiert öffentlich zugänglich macht.<ref>The Hannah Arendt Collection</ref>
Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (HAIT) in Dresden arbeitet seit 1993. Es hat sich zum Ziel gesetzt, „Diktaturen mit totalitärem Verfügungsanspruch“ zu untersuchen. Historiker und Sozialwissenschaftler sollen auf empirischer Grundlage die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und des SED-Regimes analysieren. Das Institut führt überdies Tagungen zu Hannah Arendt durch und unterstützt posthume Veröffentlichungen.<ref>Gerhard Besier, bis 2008 Leiter des Instituts, dessen Vertrag vor allem wegen seiner Nähe zu Scientology nicht verlängert wurde, schrieb in Die Welt über Arendt: „Logisches Denken, ein konzises Konzept, ein klar durchkomponierter Aufbau – das waren ihre Stärken nicht. Aber sie war eine faszinierende Schreiberin und konnte blendend formulieren.“ In: Die Totalitarismustheorie ist gescheitert.</ref>
Seit 1995 wird der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, finanziert von der Stadt Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung, vergeben.<ref>Website zum Hannah-Arendt-Preis</ref>
Die 1997 gegründete ungarische Hannah-Arendt-Gesellschaft richtet sich vor allem an pädagogisches Personal und beschäftigt sich u. a. mit einer Neudefinition der Menschenrechte angesichts der Arendt-These, dass die industrielle Massenvernichtung nur möglich war, weil die Menschenrechte weder philosophisch begründet noch politisch durchgesetzt, sondern lediglich proklamiert worden seien.<ref>Ungarische H.-A.-Gesellschaft (englisch)</ref>
In Zürich, wo Arendt 1958 den Vortrag Freiheit und Politik<ref>Freiheit und Politik (Nachdruck aus: Die neue Rundschau 69, 1958, Heft 4) In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 201ff.</ref> gehalten hatte, fanden 1996 bis 2000 jährliche Hannah-Arendt-Tage statt, die sich – jeweils unter einem anderen Blickwinkel – mit ihrem politischen Denken befassten. Seit 1998 werden auch in Hannover jeden Sommer ähnliche Veranstaltungen durchgeführt und deren Ergebnisse publiziert.<ref>Arendt-Tage, Hannover.</ref>
An der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gründete Antonia Grunenberg 1999 das Hannah-Arendt-Zentrum.<ref>H.A.-Zentrum a.d. Univ. Oldenburg.</ref> Es verfügt über Originale und Kopien des größten Teils der Dokumente aus Arendts Nachlass. Außerdem werden die Hannah Arendt Studien als Buchreihe herausgegeben. Hinzu kommen Tagungen und andere Veranstaltungen zu den Werken Arendts und allgemein zur Geistesgeschichte des vorigen Jahrhunderts.
Das Hannah Arendt Center an der New School for Social Research in New York – Arendt war dort in ihren letzten Lebensjahren als Professorin tätig – existiert seit dem Jahr 2000.<ref>New School for Social Research, Hannah Arendt Center</ref> Sein Leiter ist Jerome Kohn, der bei Arendt wissenschaftlicher Mitarbeiter war, über sie publiziert hat und gegenwärtig ihren Nachlass verwaltet.
Seit 2005 wird in Berlin der Internationale Hannah-Arendt-Newsletter<ref>forum der Arendt-Forschung u. Newsletter.</ref> herausgegeben mit deutschen, englischen und seltener französischen Beiträgen, darunter auch bisher noch unveröffentlichten Arbeiten Arendts.
Etwa seit der Jahrtausendwende kann man von einem regelrechten Arendt-Boom in Deutschland sprechen. Hannover, Marburg und Heidelberg haben Gedenktafeln an den entsprechenden Wohnstätten angebracht, einige Schulen<ref>zum Beispiel: Hannah-Arendt-Gymnasium Haßloch, Hannah-Arendt-Gymnasium in Barsinghausen, hannah-arendt-schule in Hannover, Hannah-Arendt-Schule in Flensburg, eine Berufsschule in Südtirol oder das Hannah-Arendt-Gymnasium in Berlin-Neukölln</ref> sowie Straßen und Plätze sind nach ihr benannt, öffentliche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien und Ausstellungen durchgeführt. Aus Anlass ihres 30. Todestages 2005 und kurz darauf zu ihrem 100. Geburtstag erschienen zahlreiche Artikel und Bücher. In den Universitäten und anderen Forschungsstätten interessieren sich zunehmend neben Philosophen, Politologen und anderen Sozialwissenschaftlern auch Historiker und Literaturwissenschaftler für Hannah Arendt.
Der Asteroid „100027 Hannaharendt“ wurde nach ihr benannt.
In Wien-Donaustadt wurde 2012 der Hannah-Arendt-Platz und der Hannah-Arendt-Park im neu entstehenden Stadtteil Seestadt Aspern nach ihr benannt. 2015 wurde der Hannah-Arendt-Platz in Hannover nach ihr benannt, zuvor trug dort ein Weg ihren Namen.
Am 8. September 2012 fand auf dem internationalen Filmfestival in Toronto die Welturaufführung des ersten Spielfilms über Hannah Arendt statt; die deutsche Premiere folgte am 8. Januar 2013 in Essen. Die Regie führt Margarethe von Trotta. Hauptdarstellerin ist Barbara Sukowa. Im Mittelpunkt des Films Hannah Arendt – Ihr Denken veränderte die Welt stehen die Auseinandersetzungen über ihren Eichmann-Report. Der Film wurde häufig rezensiert.<ref>Rezensionen (Auswahl): Jörg Schöning: Kinoporträt "Hannah Arendt". Sie liegt, sie qualmt, sie denkt. Spiegel online, 9. Januar 2013. Micha Brumlik: immer klappert die Reiseschreibmaschine. Denken im Film. Taz, 10. Januar 2013, S. 15. Bert Rebhandl: Kinofilm „Hannah Arendt.“ Selbst denken macht Freunde. FAZ online, 11. Januar 2013. Kino: „Über Hannah Arendt.“ Selbst denken macht einsam. Interview mit der Nichte Hannah Arendts Edna Brocke. FAZ online, 14. Januar 2013.</ref>
Siehe auch
- Aufklärung, Arendts Konzept politischer Gleichheit ohne gesellschaftliche Angleichung
- Paria als politischer und soziologischer Begriff
- Normativ-ontologischer Ansatz der Politischen Theorie, Einordnung Arendts innerhalb der Politischen Theorie und Ideengeschichte
- Behemoth (Franz Neumann), Arendt über Neumanns Werk in EuU
- Joseph Conrads (Nachwirkung) als literarische Quelle Arendts
- Carl Schmitt, Arendt bezieht sich vor allem in EuU auf Carl Schmitt
- Milgram-Experiment, Stanley Milgram bezieht sich auf den Begriff der „Banalität des Bösen“ bei Arendt.
- Der Stellvertreter#Rezeption, Arendt setzte sich mehrfach für das umstrittene Werk über Pius XII. ein.
- Peter Brokmeier zum Begriff des Politischen und des „Totalitarismus“ bei H. A.
- „Davon haben wir nichts gewusst!“ Zitat aus Arendts Artikel Organisierte Schuld (amerikanische Erstveröffentlichung Januar 1945)
- Epiktet, Rezeption in Das Wollen und Über das Böse
Literatur
Bibliografien
Für die Werke und Texte Arendts bis 1996 gibt es die fast vollständige chronologische, deutsch-englische Bibliografie in Ich will verstehen (2005) und bei Young-Bruehl (diese nur bis 1978). Hilfreich sind die Angaben des Internet-Portals www.hannaharendt.net, insbesondere auch fremdsprachige Literatur, nach Erscheinungsjahr geordnet (Sek.-Lit. seit 2000, primäre seit 1929). Nützlich ist ebenfalls die leicht zugängliche Einführung von Wolfgang Heuer, die in der letzten Auflage einen Großteil von Arendt-Texten auflistet, welche bis 2003 erschienen sind. Im „Text & Kritik“-Heft von 2005 hat Sarah Hemmen die Sekundärliteratur gelistet. Eine neueste Auflistung (Primär-, und Sekundär-Lit.) bei Thomas Wild (2006), S. 143 ff., der im Text auch die Sekundärliteratur kurz darstellt und kommentiert. Eine weitere, übersichtliche Bibliografie (primär und sekundär) gibt es online (PDF; 62 kB)
Zur Einführung
- Denken ohne Geländer. Texte und Briefe. Piper München, Zürich 2006, ISBN 3-492-24823-3 (Zusammenstellung kurzer Textauszüge zur Philosophie, zum politischen Denken, zum politischen Handeln, zur Situation des Menschen, Lebensgeschichten).
- Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. Ursula Ludz. Piper, München 1996, Neuauflage 2005, ISBN 3-492-24591-9 (darin u. a. Brief an Scholem 1963, Fernsehgespräche mit Thilo Koch 1964, Günter Gaus 1964, Roger Errera 1973, Diskussion mit Freunden in Toronto 1973).
- Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964. Hg. Ursula Ludz und Thomas Wild (Vorbemerkung u. Anmerkungen), Okt. 2007 2005.
- Die Banalität der Liebe. Theaterstück von Savyon Liebrecht über Arendts Beziehung zu Heidegger.
- Geburtlichkeit und Sein zum Tode. Theaterstück von Fanny Brunner und Eva Bormann über die Beziehung Arendt / Heidegger, Uraufführung im Hessischen Landestheater Marburg, 2012 unter der Regie der Autorin F. Brunner.
Ausstellungen
- Hannah Arendt: „Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit.“ Eine Ausstellung über H. A. und die Literatur Konzept: Barbara Hahn & Marie Luise Knott Literaturhaus Berlin(→ Archiv, 2007) Katalog: gl. Titel, Matthes & Seitz, Berlin 2006, ISBN 3-88221-921-1.
- Hannah Arendt Denkraum, Berlin 2006, in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, Halberstadt 2008. Kurator Peter Funken, Idee Wolfgang Heuer & Sebastian Hefti
- "Via Activa", Ausstellung 7 bedeutender Autorinnen, darunter Hannah Arendt, im Wiener Stephansdom, Wien 2013, Konzept: Victoria Coeln.
Belletristik
- Randall Jarrell: Pictures from an Institution. A Comedy. Chicago 1954 (Neuauflage 1986). Jarrell widmete das Buch seiner Frau und H.A., mit der ihn eine Freundschaft verband. Die Figur „Irene“ trägt Arendts Züge.
- Uwe Johnson: Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 1, Suhrkamp, Frankfurt 1970. Die entsprechende Romanfigur trägt den Titel „Gräfin Seydlitz“.
- Arthur Allen Cohen: An Admirable Woman. David R. Godine Publ., Boston/USA 1984 (Neuauflage 1994). Für die Hauptfigur „Erika Herz“ diente H.A. als Vorbild.
- Catherine Clément: Martin und Hannah. Roman. Rowohlt, Berlin 2000, ISBN 3-87134-400-1 (aus d. Franz.)
- Leslie Kaplan: Fever. POL, Paris 2005, Berlin Verlag 2006 (Ein philosophischer Roman nach Hannah Arendts Eichmann-Buch. Kaplan greift Arendts Thesen zu Kommunikation, Freiheit und Schuld auf.)
Weblinks
- wikibooks Hannah Arendt mit tabellarischem Lebenslauf
- Literatur von und über Hannah Arendt im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von und über Hannah Arendt in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- Hannah Arendt im Zentralen Verzeichnis digitalisierter Drucke (zvdd) nur Nachweis (53 Stk.); überwiegend in Dt. Nationalbibliogr., oft aus dem Aufbau
- Deutscher Bildungsserver: Eintrag zu Hannah Arendt mit weiteren Weblinks
- Linkliste zu Hannah Arendt auf philo.de
- The Hannah Arendt Papers, Manuscript Division, Library of Congress dasselbe als pdf-Datei (einfache Suche möglich)
- Biografie, Literatur & Quellen zu Hannah Arendt FemBio des Instituts für Frauen-Biographieforschung
- Kurzbiografie der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
- Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus auf YouTube
Der Liebesbegriff bei Augustin (1929) | Aufklärung und Judenfrage (1932) | Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. (1938) | Wir Flüchtlinge (1943) | Was ist Existenzphilosophie? (1945) | Über den Imperialismus (1947) | Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) | Die Krise in der Erziehung (1958) | Vita activa oder vom tätigen Leben (1960) | Über die Revolution (1963) | Eichmann in Jerusalem (1963) | Wahrheit und Politik (1964) | Über das Böse (1965) | Macht und Gewalt (1970)
Einzelnachweise
<references />
Personendaten | |
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NAME | Arendt, Hannah |
ALTERNATIVNAMEN | Arendt, Johanna (Geburtsname); Arendt-Blücher, Hannah; Arendt-Bluecher, Hannah |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanische Politologin und Philosophin deutscher Herkunft |
GEBURTSDATUM | 14. Oktober 1906 |
GEBURTSORT | Linden |
STERBEDATUM | 4. Dezember 1975 |
STERBEORT | New York City |