Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit


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„L’histoire de l’art depuis Walter Benjamin“, Kolloquium in Paris, 6. Dezember 2008: André Gunthert, Maître de conférences, während eines Vortrags

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist der Titel eines Aufsatzes des Philosophen Walter Benjamin, den er 1935 im Pariser Exil verfasste. Er erschien erstmals 1936 unter dem Titel L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée in der Zeitschrift für Sozialforschung, in einer redaktionell überarbeiteten und gekürzten französischen Übersetzung. Benjamin vertritt darin die These, dass die Kunst und ihre Rezeption selbst, insbesondere durch die Entwicklung von Photographie und Film, einem Wandel unterworfen sind. Dies geschehe zum einen durch die Möglichkeit der massenhaften Reproduktion, zum anderen durch eine veränderte Abbildung der Wirklichkeit und damit eine veränderte kollektive Wahrnehmung. Zudem verliere in diesen Prozessen das Kunstwerk seine Aura, was in der Folge wiederum die soziale Funktion der Medien verändere. Die durch die Reproduzierbarkeit entstehende kollektive Ästhetik biete zwar die Möglichkeit der Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Emanzipation, berge aber auch die Gefahr der politischen Vereinnahmung, wie zeitgenössisch am Aufstieg des Faschismus deutlich werde.

Stellenwert der Schrift in der kunsttheoretischen Debatte

Benjamin bezeichnete seine Schrift als die „erste Kunsttheorie des Materialismus, die diesen Namen verdient“.<ref>Walter Benjamin in einem Brief an Alfred Cohn im Oktober 1935; in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Band V, Frankfurt am Main 1999, S. 184.</ref> Während zu Benjamins Lebzeiten und in der direkten Nachkriegszeit die Rezeption des Aufsatzes begrenzt war, wurde der Text in den 1960er und 1970er Jahren wiederentdeckt.<ref name="doorn">Willem van Reijen und Herman van Doorn: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik. S. 155–161.</ref> Seit Mitte der 1980er Jahre gilt er als eines der Gründungsdokumente der Kultur- und Medientheorie der Moderne.<ref>Detlev Schöttker: Benjamins Medienästhetik. In: Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. S. 411–421.</ref>

Inhalt

In den Druckausgaben<ref>Zu den Ausgaben der letzten autorisierten Fassung, auch „Dritte Fassung“ genannt, siehe Redaktionsgeschichte und Literatur.</ref> umfasst der Aufsatz in der letzten autorisierten Fassung von 1939 in der Regel knapp vierzig Seiten. Er besteht aus einem Hauptteil von fünfzehn römisch durchnummerierten Kapiteln sowie Vor- und Nachwort, innerhalb derer die erkenntnistheoretische und politische Bedeutung des Werks herausgestellt wird. Als Motto dient ein Zitat von Paul Valéry aus dem Jahr 1928, das das Thema des Aufsatzes angibt: den Wandel der Kunst durch den Einfluss der Technik.

Das Vorwort behandelt den Zusammenhang von Marxismus und Kunsttheorie. Die Gedankengänge werden im Nachwort aufgegriffen und konkretisiert und dabei die Bedeutung der Kunst im Faschismus herausgearbeitet. Der Hauptteil gliedert sich in einen historischen Teil zur Kunst- und Mediengeschichte (Kapitel I bis VI), eine Überleitung (Kapitel VII), die sich mit dem Zusammenhang zwischen Photographie und Filmtheorie auseinandersetzt, und einen ästhetischen Teil, der die Film- und Kunstrezeption behandelt (Kapitel VIII bis XV).<ref>Detlev Schöttker: Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar. S. 135.</ref> In 33 Fußnoten werden Begriffe und Thesen des Aufsatzes teilweise mit ausführlichen Zitaten aus Philosophie, Kunst- und Filmgeschichte erläutert. Die erste, 1935 abgeschlossene Fassung, ist, neben inhaltlicher Unterschiede, anders gegliedert. So umfasst sie 19 Kapitel, die das Vor- und Nachwort einbeziehen und die vom Herausgeber nachträglich arabisch nummeriert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen wurden.

Marxismus und Kunsttheorie

In der Einleitung stellt Benjamin ein Zitat Paul Valérys voran, der mit Bezug auf die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik schrieb:

„Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“

Paul Valéry: Pièces sur l’art (Auszug aus dem von Walter Benjamin vorangestellten Zitat)<ref>Paul Valéry: La conquete de l’ubiquité. In: Pièces sur l’art. Gallimard, Paris ohne Jahr (1934), S. 104.</ref>

Im Anschluss verweist Benjamin auf die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise durch Karl Marx, der prognostiziert hatte, der Kapitalismus werde künftig Bedingungen herstellen, „die die Abschaffung seiner selbst möglich machen“.<ref name="kw1939-473">Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. deutsche Fassung 1939, in: ders., Gesammelte Schriften. Band I, Frankfurt am Main 1980, S. 473, online einsehbar als pdf-Datei von ominiverdi.org, abgerufen am 16. Juli 2010.</ref> Unter Rückgriff auf die im historischen Materialismus entworfene Theorie von Basis und Überbau stellt Benjamin heraus, dass der Überbau einem langsameren Prozess der Umwälzung unterliege, als es für die von Benjamin als „Unterbau“ bezeichneten Produktionsverhältnisse der Fall sei. Erst in der zeitgenössischen Gegenwart würde, nach mehr als einem halben Jahrhundert, „auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung“ gebracht.

Aus dieser Entwicklung ließen sich nunmehr neue prognostische Thesen ableiten, zwar nicht über die Kunst des Proletariats nach dessen Machtergreifung oder in einer klassenlosen Gesellschaft, so aber doch „über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“. Deren Dialektik sei sowohl im Überbau wie in der Ökonomie bemerkbar. Den zu entwickelnden Thesen schreibt Benjamin einen „Kampfwert“ zu, die den überkommenen und im faschistischen Sinn angewandten Begriffen wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis entgegengestellt werden sollen. Im Unterschied zur geläufigen Kunsttheorie erachtet er die von ihm im Folgenden eingeführten Begriffe als „für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar ergaben, die geringste Vorstellung gemacht. den Schriftstellern, wenn schon nicht den Vortrag, so die Debatte meiner Arbeit zu hintertreiben.“<ref name="cohn">Walter Benjamin an Alfred Cohn, Brief vom 4. Jul 1936, zitiert nach: Detlev Schöttker: Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar. S. 86.</ref>

In dieser Aussage deutet sich ein weiteres Dilemma der Nichtbeachtung des Aufsatzes an. Benjamin hatte gehofft, eine Veröffentlichung in einer der in der Sowjetunion erscheinenden deutschsprachigen Exilzeitschriften zu erreichen, da er in den erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Arbeit auch einen Beitrag zur revolutionären Kulturpolitik sah. Doch zeichnete sich bereits die Absolutheit des Stalinismus ab, eine kritische Reflexion nicht zuzulassen. Dies veranlasste auch die kommunistischen Parteigenossen in Frankreich dazu, „ihren so wohl eingespielten belletristischen Betrieb“ durch Benjamin gefährdet zu sehen. „Im übrigen dürfen sie sich wohl mit einigem Recht solange in Sicherheit wiegen, als auch Moskau das A und O der Literaturpolitik in der Förderung linker Belletristik erblickt.“<ref name="cohn" />

Auch in den USA gab es für den, in französischer Sprache in einem ansonsten deutschsprachigen Organ der Exilliteratur, veröffentlichten Aufsatz kaum Leser. Allerdings bekundete der amerikanische Filmwissenschaftler und Regisseur Jay Leyda ab 1937 Interesse an einer englischen Übersetzung, doch kam es weder zu einer Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung in New York noch zu einem fruchtbaren Kontakt mit dem in Frankreich immer mehr isolierten Benjamin. Verstärkt wurde die Problematik durch das Verhalten von Horkheimer und Adorno, die in weiteren Veröffentlichungen keinen Bezug zu dem Kunstwerk-Aufsatz herstellten.

Die Kritik Adornos

Als bedeutende zeitgenössische Kritik gilt Theodor W. Adornos Auseinandersetzung um den Aufsatz in zahlreichen eigenen Schriften und Briefen. So vertritt er in seinem 1936 veröffentlichten Beitrag Über Jazz, in Weiterführung von Horkheimers Theorie der Manipulation, die Position, dass die Massenkultur zu Passivität, Konformismus und Abschaffung von Individualität führe: „Die Kapitalkraft der Verlage, die Verbreitung durch Rundfunk und vor allem der Tonfilm bilden eine Tendenz zur Zentralisierung aus, die die Freiheit der Wahl einschränkt und weithin eigentliche Konkurrenz kaum zuläßt; der unwiderstehliche Propagandaapparat hämmert den Massen solange die Schlager ein, die er gut findet und die meist die schlechten sind, bis ihr müdes Gedächtnis wehrlos ihnen ausgeliefert ist.“<ref>Theodor W. Adorno: Über Jazz. In: Derselbe: Musikalische Schriften: Moments musicaux. Impromptus. Band IV (Band 17 der Gesammelten Schriften), Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-29317-6, S. 80; Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler in: Zeitschrift für Sozialforschung. Jahrgang 5, 1936, S. 235–259.</ref>

In einem umfangreichen Brief an Benjamin vom 18. März 1936 erläutert er seine Auffassung und richtet seinen Haupteinwand gegen dessen Ausarbeitungen zur Bedeutung der Technik in den Künsten: „Sie unterschätzen die Technizität der autonomen Kunst und überschätzen die der abhängigen.“<ref name="adorno">Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 18. März 1936; in: Theodor W. Adorno / Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 169–172.</ref> Insbesondere aber kritisiert Adorno den Einfluss Bertolt Brechts, den er in der dialektischen Betrachtung der Kunstwerke erkennt: „Es ist mir nun bedenklich, und hier sehe ich einen sehr sublimierten Rest Brechtischer Motive, daß Sie jetzt den Begriff der magischen Aura auf das ‚autonome Kunstwerk‘ umstandslos übertragen und dieses in blanker Weise der gegenrevolutionären Funktion zuweisen. […] Es scheint mir aber, daß die Mitte des autonomen Kunstwerks nicht selber auf die magische Seite gehört […], sondern in sich dialektisch ist: daß sie in sich das Magische verschränkt im Zeichen der Freiheit.“<ref name="adorno" /> Deutlicher noch in seiner Ablehnung Brechts wird er gegen Ende des Briefs. Dort schreibt er: „Wie ich denn überhaupt bei unserer theoretischen Differenz das Gefühl habe, daß sie gar nicht zwischen uns spielt sondern daß es vielmehr meine Aufgabe ist Ihren Arm steifzuhalten bis die Sonne Brechts einmal wieder in exotische Gewässer untergetaucht ist.“<ref name="adorno" />

Eine weitergehende Kritik an dem Kunstwerkaufsatz verfasste Adorno in einem Brief vom 21. März 1936 an Max Horkheimer. Er legt dar, dass die Tendenz des Essays nach seinem Sinne ist, doch Benjamin mythisiere die Entmythologisierung: „Oder drastischer gesprochen, er schüttet erst das Kind mit dem Bade aus und betet dann die leere Wanne an“.<ref>Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 18. März 1936; in: Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Briefwechsel, Band I: 1927–1937. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, S. 131.</ref>

Auch in anderen Arbeiten setzen sich sowohl Adorno wie Horkheimer weiterhin mit Benjamins Thesen auseinander. So bezeichnete Adorno seinen Aufsatz „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“, 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung erstveröffentlicht, in der Vorrede zur dritten Buchausgabe von 1963 als Antwort auf den Kunstwerkaufsatz.<ref>Theodor W. Adorno: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. (Band 14 der Gesammelten Schriften), Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-29314-1, S. 10.</ref> Auch Horkheimers 1941 erschienener Beitrag Art and Mass Culture bezieht sich auf Benjamin, ohne diesen jedoch zu benennen.<ref>Max Horkheimer: Art and Mass Culture. In: Studies in Philosophy and Social Science. Jahrgang IX, 1941, Heft 2</ref> Der Widerspruch besteht in der Hauptsache zu Benjamins Ausführungen, dass die neuen Technologien und insbesondere die Filmtechnik die Chancen neuartiger Wahrnehmung bieten. Sowohl Adorno wie Horkheimer aber betonen die negativen Folgen der Massenkultur. So wurde von ihnen insbesondere in dem Kapitel Kulturindustrie. des Werks Dialektik der Aufklärung die kulturindustrielle Produktion als „Massenbetrug“ und „Reproduktion des Immergleichen“ dargestellt, die die Welt nur wiedergebe, wie sie ist und allein den kapitalistischen Verwertungsinteressen diene.<ref>Theodor Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Gunzelin, Schmid, Noerr (Hrsg.): Gesammelte Schriften.. Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Fischer, Frankfurt am Main 1987.</ref> Diese als Regressions- und Manipulationsthese bezeichnete Position war in der Nachkriegszeit bis in die achtziger Jahre die dominierende Medientheorie. Sie richtete sich gegen Benjamins Auffassung, dass die modernen Medien die Möglichkeit einer Politisierung der Ästhetik innewohnt. Doch blieb der Kunstwerkaufsatz ungenannt, „so daß seine Anregungen erst aufgenommen wurden, als die Studentenbewegung Adornos Auffassung Anfang der siebziger Jahre in Frage zu stellen begann.“<ref>Detlev Schöttker: Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar. S. 164.</ref>

Die Kritik Brechts

Adorno sah und kritisierte den Einfluss Bertolt Brechts. Tatsächlich haben Brecht und Benjamin sich sowohl 1934, 1936 und auch 1938 in Skovsbostrand in Dänemark getroffen, und dabei gemeinsam an Texten gearbeitet. Für den Sommer 1936 ist belegt, dass sie die französische Fassung des Kunstwerkaufsatzes besprachen. Benjamin schrieb dazu in einem Brief an Alfred Cohn: „Ihre Aufnahme durch Brecht ging nicht ohne Widerstände, ja Zusammenstöße vonstatten. Das alles aber war sehr fruchtbar und führte, ohne den Kern der Arbeit im geringsten anzutasten, zu mehreren bemerkenswerten Versbesserungen.“<ref>Walter Benjamin an Albert Cohn, Brief vom 10. August 1936; in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Band V, S. 349.</ref> Auch in den Texten selbst ist die Zusammenarbeit von beiden erkennbar, so zieht Benjamin in dem Kunstwerkaufsatz eine Verbindung zu Brechts Der Dreigroschenprozeß, in dem dieser zuvor auf Benjamins Kleine Geschichte der Photographie zurückgegriffen hatte.<ref>Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. S. 251 f.</ref> Was Brecht an dem Kunstwerkaufsatz schätzte, wird in einem Schreiben an Mordecai Gorelik im März 1937 deutlich, dem er die Schrift empfiehlt: „eine Arbeit […] von Benjamin, in der er feststellt, wie revolutionierend die Tatsache, daß man Kunstwerke technisch massenhaft vervielfachen kann (Fotografie, Film), auf die Kunst und Kunstauffassung einwirkt.“<ref>Bertolt Brecht an Mordecai (Max) Gorelik, Brief Anfang März 1937, in: Bertolt Brecht: Werke. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2000, Band 29, S. 18 - Brief Nr. 754</ref>

Der Begriff der Aura hingegen erschloss sich Brecht nicht, er ordnete ihn im Bereich der Mystik ein. 1938, nach einem weiteren Besuch Benjamins, notierte er in seinem Arbeitsjournal:

„er geht von etwas aus, was er aura nennt, was mit dem träumen zusammenhängt (den wachträumen). er sagt: wenn man einen blick auf sich gerichtet fühlt, auch im rücken, erwidert man ihn (!). die erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die aura. diese soll in letzter zeit im verfall sein, zusammen mit dem kultischen. b[enjamin] hat das bei der analyse des films entdeckt, wo aura zerfällt durch die reproduzierbarkeit von kunstwerken. alles mystik, bei einer haltung gegen mystik. in solcher form wird die materialistische geschichtsauffassung adaptiert! es ist ziemlich grauenhaft.“

Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, 1938<ref>Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. herausgegeben von Werner Hecht, 2 Bände, Frankfurt am Main 1974, Band 1, S. 14.</ref>

Dieses Zitat, ebenfalls aufgeführt in den editorischen Anmerkungen zu Benjamins Gesammelte Schriften, wurde vielfach verwendet, um Brechts ablehnende Haltung gegenüber dem Kunstwerkaufsatz darzustellen. Diese ablehnende Haltung wurde von der späteren Benjamin- und Brecht-Forschung jedoch nicht bestätigt. So wies Günter Hartung darauf hin, dass die Notiz auf Benjamins Baudelaire-Studien und nicht auf den Kunstwerkaufsatz bezogen ist.<ref>Günter Hartung: Zur Benjamin-Edition - Teil II; in Weimarer Beiträge, 36. Jahrgang, Berlin/Weimar 1990, S. 981.</ref>

Benjamins Freund Gershom Scholem, als Religionswissenschaftler und Kabbala-Spezialist, begrüßte die metaphysische Konzeption des Aura-Begriffs und prognostizierte posthum, dass man dem Aufsatz „mit Sicherheit ein intensives Nachleben voraussagen“ könne. Er kritisierte jedoch, dass der Autor eine „hinreißend falsche Philosophie des Films als der wahrhaft revolutionären Kunstform aus marxistischen Kategorien“ entwickelt habe.<ref>Gershom Scholem: Walter Benjamin (1965), in: ders. Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1983, S. 24 f.</ref>

Politisierung der Ästhetik

Nach dem Krieg blieb die Schrift auch nach den Veröffentlichungen von 1955 und 1963 weitgehend unbeachtet. Erst Ende der 1960er Jahre wurden die Thesen Benjamins erstmals hervorgehoben und von Helmut Heißenbüttel und Helmut Lethen der Ästhetischen Theorie Adornos kritisch gegenübergestellt. 1970 berief sich Hans Magnus Enzensberger in seiner Theorie der Medienpraxis auf Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit: „Schon vor fünfunddreißig Jahren, zu einem Zeitpunkt also, da die Bewußtseins-Industrie noch relativ wenig entfaltet war, hat Walter Benjamin dieses Phänomen einer hellsichtigen dialektisch-materialistischen Analyse unterzogen. Sein Ansatz ist von der seitherigen Theorie nicht eingeholt, geschweige denn weitergeführt worden.“<ref>Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20, 1970; und ders.: Palaver. Politische Überlegungen (1967–1973). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 119.</ref> Damit gelangte die Schrift zu einer breiteren Bekanntheit und in die Diskussion der Neuen Linken. Im Mittelpunkt standen dabei Benjamins Ausführungen zur Ästhetisierung der Politik, die Adornos Manipulationstheorie, nach der die Kulturindustrie das gesellschaftliche Massenbewusstsein lenkt, entgegengestellt wurden.<ref>Christoph Hesse: Kritische Theorie und Kino. Benjamin und Adorno über Kunst und Kulturindustrie. Vortrag vom 8. Mai 2007; auch als pdf-Datei, abgerufen am 19. Juli 2010.</ref>

Die Studentenbewegung griff den Kunstwerkaufsatz auf, hob die Kritik an den bürgerlich-idealistischen Vorstellungen von Kunst hervor und schrieb sich „die Forderung nach Politisierung der Kunst auf die Fahnen“.<ref>Reinhard Markner: Benjamin nach der Moderne. Etwas zur Frage seiner Aktualität angesichts der Rezeption seit 1983. In: Schattenlinien (Berlin) Nr. 8–9, 1994, S. 37–47., abgerufen am 28. August 2010.</ref> Van Reijken und Van Doorn legen dar, dass Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit diejenige Arbeit sei, mit der Benjamin „zur Kultfigur der 68er Generation werden sollte“.<ref name="doorn" />

Medientheoretische Rezeption

Mit dem wachsenden Interesse an der Medien- und Kommunikationsforschung wurde seit Mitte der 1980er Jahre die medienhistorische Dimension von Benjamins Schrift entdeckt und mit weiteren medienästhetischen Publikationen aus den 1920er und 1930er Jahren, zum Beispiel von Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim, ins Verhältnis gesetzt. Dabei wurde nicht die ideologische Funktion der Massenkultur in das Zentrum der Rezeption gestellt, sondern Benjamins Überlegungen zur Rolle der Medien für den Wandel der Kunst-, Kommunikations- und Erfahrungsformen. So würdigt Jonathan Crary, Kunsthistoriker an der Columbia University, das Werk wie folgt:

„Mehr als jeder andere hat möglicherweise Walter Benjamin die heterogene Struktur der Ereignisse und Objekte entworfen […]. In den verschiedenen Fragmenten seiner Schriften treffen wir auf einen veränderlichen und sich wandelnden Betrachter, der durch neue städtische Räume, Technologien und neue ökonomische wie symbolische Funktionen von Bilder und Produkten geprägt ist. […] Für Benjamin war Wahrnehmung zutiefst komplementär und kinetisch - er macht deutlich, daß die Moderne einen kontemplativen Betrachter erst gar nicht mehr zuläßt.“

Jonathan Crary: Techniken des Betrachters<ref>Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden 1996, S. 30 f.</ref>

Obwohl Benjamins Medienbegriff weit entfernt ist von der „nachrichten- und kommunikatitonstechnologisch reduzierten Auffassung von Medialität“, gilt das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, zusammen mit Benjamins Schriften Kleine Geschichte der Photographie von 1931 und Der Autor als Produzent aus dem Jahr 1934, als Gründungsdokument der modernen Medientheorie.<ref name="steiner" />

Siehe auch

Literatur

Druckfassungen

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste deutsche Fassung, 1935); in:

  • Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band I, Werkausgabe Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-28531-9, S. 431–469.

L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée (von Pierre Klossowski übersetzte und gekürzte französische Fassung, 1936) In:

  • Zeitschrift für Sozialforschung. 5, 1936, Heft 1, S. 40–66.
  • Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band I, Werkausgabe Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-28531-9, S. 709–739.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite, erweiterte deutsche Fassung, 1936); in:

  • Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band VII, Werkausgabe Band 1, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-28531-9, S. 350–384.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (dritte, autorisierte letzte Fassung, 1939); In:

  • Walter Benjamin: Schriften. Band I, herausgegeben von Theodor W. Adorno. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955, S. 366–405.
  • Walter Benjamin: Drei Studien zur Kunstsoziologie. edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1963, ISBN 3-518-10028-9, S. 7–63. (Diese Ausgabe enthält zudem die Aufsätze Kleine Geschichte der Photographie. (1931) und Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. (1937).)
  • Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band I, Werkausgabe Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-28531-9, S. 471–508.
  • Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. herausgegeben von Detlev Schöttker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-29201-3, S. 351–383.
  • Detlev Schöttker: Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar. Suhrkamp Studienbibliothek, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-518-27001-1, S. 7–50.

Sekundärliteratur

  • Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Königshausen & Neumann, Würzburg 1988, ISBN 3-88479-361-6.
  • Willem van Reijen, Herman van Doorn: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-58302-6.
  • Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. Junius, Hamburg 2003, ISBN 3-88506-373-5.
  • Christian Schulte (Hrsg.): Walter Benjamins Medientheorie, 12 Aufsätze. UVK-Verlag, Konstanz 2005, ISBN 3-89669-467-7.

Weblinks

  • Adele Gerdes: Walter Benjamin und der Reproduktionsaufsatz. Eine Einführungsskizze. Manuskript, Universität Bielefeld, 2000; auch als pdf-Datei, abgerufen am 16. November 2010
  • Martin Bartenberger: Walter Benjamin gegen seine Liebhaber verteidigen? Kurzfilm über Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, 2011. Kurzfilm online, abgerufen am 29. September 2011

Einzelnachweise

<references />