Italienischer Faschismus
Unter dem Begriff Italienischer Faschismus (bzw. nach der Eigenbezeichnung nur Faschismus; italienisch: Fascismo) versteht man:
- die politische Bewegung der Faschisten unter ihrem „Duce“ (dt. Führer) Benito Mussolini, organisiert in den Fasci italiani di combattimento (1919–1921), dem Partito Nazionale Fascista (1921–1943) und dem Partito Fascista Repubblicano (1943–1945),
- die Herrschaftsform der Faschisten während der Ministerpräsidentschaft Mussolinis im Königreich Italien (1922–1943), die sich ab 1925 zur Diktatur entwickelte, sowie das Kollaborationsregime der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich besetzten faschistischen Republik von Salò (1943–1945),
- die von der faschistischen Bewegung Mussolinis propagierte politische Ideologie.
Die Ursprünge der faschistischen Bewegung liegen in der am 23. März 1919 gegründeten italienischen Frontkämpfervereinigung Fasci italiani di combattimento (dt. Italienische Kampfbünde), welche 1921 in eine politische Partei umgewandelt wurde, den Partito Nazionale Fascista (dt. Nationale Faschistische Partei, kurz PNF). Nach dem sogenannten Marsch auf Rom 1922 bildeten die Faschisten eine Koalitionsregierung mit Konservativen und Nationalisten mit Mussolini als Ministerpräsidenten. Ab 3. Januar 1925 errichteten die Faschisten in Italien eine Einparteiendiktatur. Die Periode von 1925 bis 1945 wird in Italien als „ventennio fascista“ (die zwei Jahrzehnte des Faschismus) bezeichnet.
Die imperialistische Außenpolitik der Faschisten führte zu einer Reihe von militärischen Interventionen Italiens in Afrika und auf dem Balkan. Darüber hinaus unterstützte das faschistische Italien 1936 bis 1939 militärisch massiv die Nationalisten Francisco Francos im Spanischen Bürgerkrieg und beteiligte sich als Verbündeter des Dritten Reiches während des Zweiten Weltkrieges auch am Westfeldzug und am Krieg gegen die Sowjetunion.
Nach der Absetzung Mussolinis als Ministerpräsident 1943 reduzierte sich infolge der alliierten Invasion das Einflussgebiet des italienischen Faschismus auf die vom Dritten Reich abhängige Republik von Salò, in welcher eine reorganisierte Republikanische Faschistische Partei die Einparteiendiktatur fortführte. 1945 endete der Faschismus in Italien mit der Befreiung durch die Alliierten.
Der italienische Faschismus galt als Modell für ähnliche Bewegungen, Parteien und Organisationen in verschiedenen Staaten und Regionen Europas, auch für den in Deutschland etablierten Nationalsozialismus.
Inhaltsverzeichnis
Wesentliche Kennzeichen
Zunächst war Fascismo nur die Bezeichnung der politischen Bewegung, die aus den von Mussolini 1919 gegründeten Fasci Italiani di Combattimento („Italienische Kampfbünde“) hervorging und 1922 die Macht in Italien eroberte.
Ihre wesentlichen Elemente waren:
- Extrem nationalistische, populistische Herrschaftsform mit ausgeprägtem Führerkult.<ref>Clemens Zimmermann: Das Bild Mussolinis. Dokumentarische Formungen und die Brechungen medialer Wirksamkeit. In: Gerhard Paul: Visual History. Ein Studienbuch. S. 225 f. („Mussolinis Selbstdarstellung und die mit ihr verbundene Ästhetisierung, Spektualisierung und Personalisierung von Politik (in einer spezifischen Form von Versammlungsöffentlichkeit) stellten wesentliche Kennzeichen politischer Kultur des Faschismus dar. […] Der ‚Mussoliniismus‘ wurde schrittweise zum Charakteristikum der Selbstdarstellung des Systems, zur Hauptbedingung seines Zusammenhalts.“)</ref>
- Radikaler, gewalttätiger Antikommunismus.<ref>Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française – Italienischer Faschismus – Nationalsozialismus. Taschenbuchausgabe, Piper, München 1984, S. 253 ff. u.ö.</ref>
- Irredentismus, das Bestreben, weite Teile der damals zum Königreich Jugoslawien gehörenden kroatischen Ostküste der Adria für Italien zu annektieren.
- Unterdrückung der autochthonen Volksgruppen und Minderheiten
- Nachdrückliche Ästhetisierung von Politik und die Betonung des voluntaristischen Zuges der Politik, also des Vorrangs des Willens vor der Ökonomie. Der Faschismus knüpft hier an den Futurismus und seine Theorien an.<ref>Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus. S. 1–18 und 89–111.</ref>
- Der umfassende Gebrauch von politischen Symbolen wie Fahnen, Marschkolonnen und Uniformen in rituellen Massenzeremonien.
- Ein an der Antike ausgerichteter Traditionalismus, der sich besonders im Kult der römischen Vergangenheit äußerte, zugleich aber auch eine revolutionär-dynamische Selbstdarstellung und entsprechende, expansive Politikansätze.<ref>Benito Mussolini: La Dottrina del Fascismso (Memento vom 15. Januar 2010 im Internet Archive), 1933. („Lo Stato fascista è una volontà di potenza e d’imperio. La tradizione romana è qui un’idea di forza. Nella dottrina del fascismo l’impero non è soltanto un'’spressione territoriale o militare o mercantile, ma spirituale o morale. […] Per il fascismo la tendenza all’impero, cioè all’espansione delle nazioni, è una manifestazione di vitalità; il suo contrario, o il piede di casa, è un segno di decadenza:“).</ref>
- Ein korporatives Wirtschaftsmodell mit nach Produktionszweigen gegliederter Organisation, mit einem das Parlament ersetzenden Plenarorgan („Kammer der Fasci und der Korporationen“, Camera dei Fasci e delle Corporazioni, seit 1938/39) und einem aus Partei- und Staatsfunktionen gemischten Organ, dem Großen Faschistischen Rat (Gran Consiglio del Fascismo, seit 1922, seit 1928 Staatsorgan), an der Spitze.
- Die ideologische Verherrlichung und Anwendung von Gewalt;<ref>Jens Petersen: Kriminalität und politische Gewalt im faschistischen Italien. Ein deutscher Blick auf ein italienisches Problem. In: Sigrid Schmitt und Michael Matheus (Hrsg.): Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit. S. 119. („In der historischen besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, die Gewalt als einen ‚fundamentalen Bestandteil‘, ja als die ‚eigentliche Substanz des Faschismus‘ zu betrachten.“)</ref> auch in der Tradition von Georges Sorel.<ref>Klaus von Beyme: Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien. S. 685.</ref>
- Körperkult, Verherrlichung von Kraft, Männlichkeit, Demonstration der italienischen Überlegenheit in körperbezogenen Aktivitäten wie Sport, Fußball-Weltmeisterschaft, Olympische Spiele.<ref>Arnd Krüger: Sport im faschistischen Italien (1922–1933). In: G. SPITZER & D. SCHMIDT (Hrsg.): Sport zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung. Festschrift für Prof. Dr. Hajo Bernett. Bonn: P. Wegener 1986, 213 - 226; Felice Fabrizio: Sport e fascismo. La politica sportiva del regime, 1924–1936. Rimini: Guaraldi 1976.</ref>
- Parteienkritik, wie sie etwa der Soziologe Robert Michels betrieb, und Selbstverständnis als (während der Bewegungsphase 1919 bis 1922) Anti-Partei, bzw. danach als Massenpartei eines neuartigen Typus.
- Ob es sich beim italienischen Faschismus um eine autoritäre oder eine totalitäre Bewegung handelte, ist in der Forschung umstritten.<ref>Vgl. zum Beispiel Wolfgang Schieder: Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung. In: Gerhard Schulz (Hrsg.): Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1985, S. 54; Karsten Krieger: Faschismus. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 1997, S. 454.</ref>
Zwischen dem modernistisch-revolutionären und dem konservativ-traditionalistischen Flügel kam es immer wieder zu Spannungen. Mussolini schwankte lange zwischen den Positionen und hatte dabei vor allem in der Zeit zwischen 1921 und 1925 große Mühe, die gegensätzlichen Kräfte zusammenzuhalten. Gleichzeitig aber diente die widersprüchliche Selbstdarstellung und unklare Identität nach außen zur Bindung verschiedener gesellschaftlicher Strömungen an den Faschismus. Das Lavieren zwischen den beiden Flügeln der Bewegung sicherte zudem Mussolinis Machtposition, da die Partei ohne ihn als Mittler auseinandergefallen oder zersplittert wäre.
Erst die europäische politische Debatte der 1930er Jahre, seinerzeit vor allem von kommunistischer Seite, ließ den bis dahin auch in Deutschland üblichen Begriff Fascismus zugunsten des über Italien hinaus üblichen Begriffes Faschismus zurücktreten.
Geschichte
Politischer, sozialer und ideologischer Hintergrund
Strukturprobleme des liberalen Staates
Die Annexion des Kirchenstaates schloss 1870 die Bildung des italienischen Nationalstaates ab (vgl. Risorgimento). Dieser Staat wurde von einer schmalen Schicht (classe politica) geführt, die sich aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum und den liberalen Teilen der alten Aristokratie (classe dirigente) rekrutierte. Das liberale Italien, das vor dem Hintergrund der faschistischen Erfahrung häufig unzutreffend als Demokratie bezeichnet wird,<ref>Siehe Bosworth, Richard J. B., Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945, London 2006, S. 30.</ref> bildete ein politisches System aus, das weitaus weniger anpassungsfähig war als das britische oder französische; es verkörperte einen „autoritären“ oder „oligarchischen“ Liberalismus, der vor der Wahlrechtsreform von 1912 nur rund 7 % der Bevölkerung das Wahlrecht einräumte. Der Monarch besaß die direkte Kontrolle über das Militär, einen bedeutenden Einfluss auf die Außenpolitik und ernannte persönlich den Regierungschef sowie die Mitglieder des Senats. Obwohl es in der gewählten Deputiertenkammer eine aus der risorgimentalen Phase überkommene „Rechte“ und „Linke“ gab, betrachteten sich bis zum Ersten Weltkrieg die weitaus meisten Abgeordneten als Liberale. Viele von ihnen waren in Patronage- und Klientelnetzwerke der jeweiligen Heimatorte eingebunden, als deren Interessenvertreter in Rom sie vorrangig agierten. Wiederholte Übergänge vom einen in das andere Lager, „linke“ Mitglieder in „rechten“ Regierungen (und umgekehrt) waren in diesem abwertend trasformismo genannten System der Organisation von Mehrheiten an der Tagesordnung; ein Bedürfnis zur Organisation politischer Parteien bestand aufgrund der sozialen Homogenität und ideologischen Flexibilität der politischen Klasse nicht. Der Ausschluss der besitzlosen und „ungebildeten“ Bevölkerungsmehrheit aus dem politischen Prozess war die Voraussetzung für das Funktionieren dieses Systems.<ref>Siehe Finaldi, Giuseppe, Mussolini and Italian Fascism, Harlow 2008, S. 20.</ref> Die daraus resultierenden Legitimitäts- und Stabilitätsprobleme beschäftigten kontinuierlich die politischen Eliten:
- „Wenn es eine inhärente ‚Krise des liberalen Staates‘ gab, dann bestand sie darin: dem sich mit dem Wachstum des Sozialismus in den 1890er Jahren verschärfenden Problem, aus dem Volk hervorgegangene Kräfte in die politischen und parlamentarischen Prozesse der Nation zu integrieren."<ref>Morgan, Philip, Italian Fascism 1919-1945, Houndmills-London 1995, S. 5.</ref>
Da Papst Pius IX. 1874 allen Katholiken die Teilnahme an nationalen Wahlen verboten hatte und die Kirche konsequent Distanz zu dem liberalen „Räuberstaat“ hielt, schied die wichtigste konservative Institution des Landes als Garant des Status quo aus. Unter den Ministerpräsidenten Francesco Crispi, Antonio Starabba di Rudinì und Luigi Pelloux – dessen Ministerpräsidentschaft schließlich Züge einer Diktatur trug – scheiterte zwischen 1893 und 1900 der Versuch, diese Fragen einer rein autoritär-repressiven Lösung zuzuführen. Crispi versuchte erstmals, die rigorose Unterdrückung sozialistischer und republikanischer Organisationen (Einsatz von 50.000 Soldaten gegen Unruhen sizilianischer Landarbeiter und Bauern 1893/94, Verbot der sozialistischen Partei 1894-1896) mit nationalistischer Rhetorik und kolonialer Expansion (vgl. Italienisch-Äthiopischer Krieg) zu verbinden. Die Wahlniederlage der „historischen Rechten“ (Destra storica) im Juni 1900 machte den Weg frei für die von Giovanni Giolitti (zwischen 1903 und 1914 mehrfach Ministerpräsident) repräsentierte liberale Strömung, die bereit war, den trasformismo auch auf Katholiken, Republikaner und reformistische Sozialisten auszudehnen. Giolitti gelang es, Teile der auf nationaler Ebene bis dahin passiven katholischen Wählerschaft in antisozialistische Wahlallianzen einzubinden und auch die offiziell intransigente Haltung der Kirche gegenüber dem liberalen Staat aufzuweichen (vgl. Gentiloni-Pakt). Gleichzeitig versuchte er, den rechten Flügel der Sozialisten gegen die revolutionäre Linke zu stärken. Er initiierte eine begrenzte Sozialgesetzgebung, lockerte den Wahlzensus wesentlich (bei der Parlamentswahl im Herbst 1913 hatten 65 % der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Wahlrecht) und trat als betont „neutraler“ Vermittler bei Arbeitskonflikten auf. Die Formierung von Industriellen- und Großgrundbesitzerorganisationen (1910 Gründung der Confindustria), die eine aggressive Linie gegenüber den Gewerkschaften und allen anderen „Subversiven“ einforderten, stellte den erweiterten trasformismo seit 1910/11 jedoch zunehmend infrage.<ref>Siehe Bosworth, Richard J. B., Mussolini, London 2010, S. 72.</ref> Er scheiterte endgültig, als 1912 die revolutionären Kräfte die Kontrolle über den PSI übernahmen und der größte Teil der reformistischen Führungsgruppe aus der Partei ausgeschlossen wurde.<ref>Siehe Morgan, Italian Fascism, S. 6.</ref>
Die Krise des politischen Systems im Ersten Weltkrieg
Mit Antonio Salandra übernahmen im Frühjahr 1914 die politischen Erben der „historischen Rechten“ die Regierung. Salandras Ziel war es, die sozialistische Linke dauerhaft zu isolieren, den liberalen Block auf einer konservativen Linie zu konsolidieren und nach rechts zu erweitern. Der Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, den Salandra zusammen mit seinem Außenminister Sidney Sonnino 1914/15 maßgeblich vorantrieb, war in den Augen der liberalen Rechten stärker noch als äußeren Expansionszielen dem Kalkül einer autoritären Reorganisation der italienischen Innenpolitik untergeordnet.
In der Kampagne für die Intervention fanden sich erstmals die politischen Strömungen zusammen, die in der Nachkriegskrise die faschistische Bewegung trugen: konservative Liberale und Nationalisten, nationalistische Syndikalisten (die im Herbst 1914 die ersten nationalistischen fasci organisierten), Republikaner und einige ehemalige Sozialisten (unter ihnen der im November 1914 aus dem PSI ausgeschlossene Benito Mussolini).<ref>Siehe De Grand, Alexander, Italian Fascism. Its Origins and Development, Lincoln-London 2000, S. 14f.</ref> Zusammen repräsentierten diese Gruppen nur einen kleinen – wenn auch publizistisch deutlich überrepräsentierten – Teil der italienischen Gesellschaft, der zum Zeitpunkt des Kriegseintritts auch in der Deputiertenkammer keine echte Mehrheit fand. Das Land begann den Krieg daher tief gespalten und führte ihn in einer „Atmosphäre des Bürgerkrieges“.<ref>Morgan, Italian Fascism, S. 7.</ref> Statt die gesellschaftlichen Spannungen im Zeichen einer „nationalen“ Anstrengung zu verdecken oder abzuschwächen, spitzte der Krieg sie weiter zu.
Die sozialistische Partei, deren Einfluss auf die städtische Arbeiterklasse kontinuierlich wuchs, hielt ihre Antikriegslinie (unter der allerdings zweideutigen Parole „weder unterstützen noch sabotieren“) auch nach 1915 durch und gab sich im September 1918 ein radikales neues Programm. Die 5,7 Millionen Soldaten, die Italien bis 1918 mobilisierte, waren überproportional häufig Bauern und Landarbeiter, von denen viele zum ersten Mal ihre paesi verließen. Unter ihnen war der Kriegsdienst für einen als fremd und feindlich erlebten Staat zutiefst unpopulär; die Regierung sah sich gezwungen, ihnen nach dem Beinahe-Zusammenbruch der Front im Herbst 1917 (vgl. 12. Isonzoschlacht) großzügige Landzuteilungen nach dem Krieg zu versprechen. Auch auf der politischen Rechten wuchs in den Kriegsjahren die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse und dem parlamentarischen System, das in ihren Augen bei der Organisation der Kriegsanstrengungen und der Bekämpfung der „Subversiven“ und „Verräter“ versagte. Ein im Herbst 1917 unter dem Patronat Salandras gebildeter Fascio parlamentare di difesa nazionale trug diese Stimmen, die eine autoritäre Lösung der inneren Krise forderten und zu denen auch Mussolini mit seiner Zeitung Il Popolo d’Italia gehörte, in das Parlament.
Der italienische Radikalnationalismus
Die grundlegenden Argumente des rechten Antiparlamentarismus waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg von Intellektuellen formuliert worden, die sich zuerst 1903 im Umfeld der Zeitschrift Il Regno zusammengefunden und 1910 die Associazione Nazionalista Italiana (ANI) gegründet hatten. Für Nationalisten wie Enrico Corradini, Alfredo Rocco und Luigi Federzoni war die Konstruktion des italienischen Nationalstaates – von ihnen als Italietta („kleines Italien“) verhöhnt – zutiefst mangelhaft. Die erste Voraussetzung einer äußeren Machtpolitik Italiens war in ihren Augen die Zerstörung der sozialistischen Bewegung und jeder anderen „Subversion“. Den erweiterten trasformismo der Ära Giolitti betrachteten sie als Kapitulation vor der Linken, die das Land endgültig in die zweite Reihe der europäischen Mächte verwies; die Lockerung des Wahlzensus von 1912 ebnete für sie – womit sie ein Argument des klassischen Liberalismus wiederholten<ref>Siehe Passmore, Kevin, The Ideological Origins of Fascism before 1914, in: Bosworth, Richard J. B. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, Oxford 2010, S. 11-31, S. 27.</ref> – dem Triumph der „Menge“ über die „Besten“ den Weg.<ref>Siehe De Grand, Italian Fascism, S. 13.</ref> Sie propagierten ein Ende oder zumindest eine Einhegung des Klassenkampfes in einer durch den Staat autoritär geeinten Nation, in der „jedes Individuum als Zahnrad, Getriebe oder Niete der Lokomotive arbeitete, die das Vaterland war.“<ref>Finaldi, Mussolini and Italian Fascism, S. 56.</ref> Dieser neue Nationalismus löste sich vor allem durch seinen aggressiv artikulierten Antiparlamentarismus vom liberalen, im 19. Jahrhundert tradierten Nationalismus ab und trat als eigenständige Kraft auf, die selbstbewusst die Ersetzung der alten politischen Klasse durch „neue Männer“ einforderte. Trotz ihres antiparlamentarischen Elitismus versuchte die ANI von Anfang an gezielt, sich in Einflusspositionen des politischen Systems zu etablieren.<ref>Siehe De Grand, Alexander J., The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism in Italy, Lincoln-London 1978, S. IX.</ref> Die sechs Sitze in der Deputiertenkammer, die sie bei der Wahl im Jahr 1913 erhielt, spiegelten das bereits erreichte Maß ihres Einflusses nur sehr unvollständig.<ref>Siehe Bosworth, Mussolini’s Italy, S. 48.</ref> Zwischen 1915 und 1918 begann die nationalistische Ideologie, die Selbstverständigung der italienischen Eliten zu dominieren, wobei neben dem Krieg auch ein Generationenwechsel eine wesentliche Rolle spielte.<ref>Siehe Bosworth, Mussolini, S. 140.</ref>
Charakteristisch für die ANI war die Verwendung von Begriffen, die sie von politischen Gegnern übernommen und spezifisch umgeprägt hatte („proletarische Nation“, Konzeption eines „nationalen Syndikalismus“ bei Corradini, Mario Viana, Tommaso Monicelli u.a., „Produktivismus“ usw.).<ref>Siehe De Grand, Italian Nationalist Association, S. 19.</ref> Auf dieser Ebene trat sie weniger aristokratisch auf als der Seitenstrang des italienischen Nationalismus, der seine Positionen in Zeitschriften wie Lacerba und La Voce (mit deren Herausgeber Giuseppe Prezzolini Mussolini seit 1909 korrespondierte) formulierte. Diese Gruppen verband mit der ANI jedoch ein zentrales Motiv: der intensive Wille zur „Modernisierung“ bei gleichzeitiger Verachtung und Zurückweisung der „Massengesellschaft“.<ref>Siehe De Grand, Italian Nationalist Association, S. 20.</ref>
Es besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass sich der Hauptstrang der offiziösen Ideologie des faschistischen Regimes aus dem geistigen Fundus speiste, der vor dem Ersten Weltkrieg von der „protofaschistischen“ ANI – für die sich die Forschung erst in den 1970er Jahren zu interessieren begann – bzw. in deren Umfeld entwickelt worden war.<ref>Siehe De Grand, Italian Fascism, S. 146f.</ref>
- „Es ist geradezu verblüffend, wie der Nationalismus in dieser frühen Phase bereits alle Themen entworfen und aufgezeigt hat, in deren Variationen man später die Originalität Mussolinis hat sehen wollen. In der Phase von 1914 bis 1919 tut Mussolini nichts anderes, als die hier entwickelten Ansätze neu für sich zu entdecken, wobei man Ähnlichkeiten bis in den Wortlaut hinein feststellen kann.“<ref>Priester, Karin, Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen, Köln 1972, S. 74.</ref>
Allerdings wird äußerst kontrovers darüber diskutiert, welche praktische Bedeutung dieser Ideologie bei der Aktivierung der faschistischen Bewegung (und schließlich im Regime selbst) zukam. Reduktionistische und personalistische Ansätze, die die faschistische Ideologie aus der geistigen Entwicklung einer einzelnen Person – Mussolinis – ableiten, werden in der wissenschaftlichen Literatur kaum mehr vertreten. Ähnliches gilt für Positionen, die das in der Vorkriegszeit entstandene und während des Krieges multiplizierte faschistische Potential auf Italien reduzieren, wie der britische Historiker Kevin Passmore hervorhebt:
- „Der Faschismus war nicht das Produkt spezifisch nationaler Traditionen. (…) Wenn sich der Faschismus zuerst in Italien kristallisierte, dann deshalb, weil es die Umstände erlaubten, und nicht, weil er ideologisch prädestiniert war, dies zu tun (…). 1914 gab es in einigen europäischen Ländern protofaschistische Tendenzen. Sie wurden durch den Krieg radikalisiert und brutalisiert und setzten sich danach in der Sprache oder Realität des Bürgerkrieges fort. In keinem Land wurde jeder brutalisiert. Es ist die Aufgabe der Historiker, zu erklären, warum die Brutalisierten in einigen Ländern an die Macht kamen, in anderen aber nicht.“<ref>Passmore, Ideological Origins, S. 29.</ref>
Aufbau
Der Gründer des italienischen Faschismus, Benito Mussolini, hatte seine politischen Wurzeln in der Sozialistischen Partei Italiens (PSI), in der er den linkssyndikalistischen Flügel vertrat. Mussolini war unter anderem Chefredakteur der Parteizeitung Avanti!.
Obwohl Mussolini 1914 das Anti-Kriegsmanifest der PSI unterzeichnet hatte, gründete er kurz darauf die „Bünde der revolutionären Aktion“ (Fasci d’Azione Rivoluzionaria, FAR), die für den Kriegseintritt Italiens eintraten. Zusammen mit anderen rechtsgerichteten nationalistischen Gruppen wie beispielsweise der 1910 gegründeten Associazione Nazionalista Italiana vertrat Mussolini mit seiner Organisation das Ziel, auch die terre irredente („unerlöste Gebiete“) – die damals noch zu Österreich-Ungarn gehörenden italienischsprachigen Regionen Trient und Triest – Italien anzugliedern. Daraufhin wurde er aus der PSI ausgeschlossen. In der Folgezeit bekämpfte Mussolini mit seinen Kampfbünden sozialistische und kommunistische Parteien und Organisationen der entsprechend ausgerichteten Arbeiterbewegung mit oft massiven gewaltsamen Übergriffen.
Nach dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich Mussolini im März 1919 in Mailand an der Gründung der Fasci di Combattimenti („Kampfbünde“), die eine autoritäre Ordnung und die Revision der Pariser Vorortverträge zugunsten Italiens forderten, zumal Frankreich und Großbritannien einige ihrer bei der Londoner Geheimkonferenz von 1915 gemachten Zusagen, die Italien zum Verlassen des Dreibunds mit Österreich-Ungarn und Deutschland und zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte bewogen hatten, nicht mehr einhalten wollten, was die Legende des „verstümmelten Sieges“ (Vittoria mutilata) schuf. Italien hatte Südtirol, das Trentino und Julisch Venetien vom zerfallenen Kaiserreich Österreich-Ungarn erhalten, also weit mehr als italienische Truppen im Laufe des Krieges hatten einnehmen können, aber weniger, als die nationalistischen Forderungen beinhalteten: Der Vertrag von London hatte vorgesehen, dass auch ein Großteil Dalmatiens, der albanische Hafen Valona, das türkisch-osmanische Gebiet von Antalya und angrenzende Gebiete bis einschließlich Konya dem Königreich Italien zugeschlagen werden sollten. Auch bei der Aufteilung der deutschen Kolonien war Italien leer ausgegangen.
Nachdem in den Nachkriegsjahren 1919 und 1920 Demonstrationen und Streiks, die vielfach mit gewaltsamen Fabrik- und Landbesetzungen endeten, die Wirtschaft Italiens lahmgelegt hatten, nutzte Mussolini die Angst vor einer bolschewistischen Revolution aus, um sich als Garant von Recht und Ordnung zu etablieren. Die Squadristi, die paramilitärischen Verbände der Fasci, übten unter seinem Oberbefehl Terror gegen Gewerkschafter, linke Parteien und unliebsame Politiker vor allem in Nord- und Mittelitalien aus.
Ebenfalls bereits 1919 schuf Gabriele D’Annunzio, Schriftsteller und Kampfpilot im Ersten Weltkrieg, mit der handstreichartigen Eroberung der jugoslawischen, jedoch mehrheitlich von Italienern bewohnten Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) ein erstes „präfaschistisches“ System, das von einer korporativen Ordnung, Massenzeremonien und den Faschismus vorwegnehmender Symbolik gekennzeichnet war.
Die fasci wuchsen vor allem 1921 und 1922, nachdem sich ihnen gewerkschaftliche Landarbeiter-Verbände angeschlossen hatten, rasch zur größten Massenbewegung Italiens. Am 7. November 1921 wurde in Rom die Umwandlung der Fasci di Combattimento in die Partito Nazionale Fascista, eine umfassendere politische Vereinigung und Volkspartei, vollzogen. Mussolini wurde, als er 1922 beim Marsch auf Rom mit einem Putsch drohte, von König Viktor Emanuel III. zum Ministerpräsidenten ernannt.
Noch zu diesem Zeitpunkt hatte die faschistische Bewegung keine einheitliche Organisationsstruktur. Es gab mehrere, oft an lokale Anführer gebundene „Kristallisationskerne“. Während sich die Gruppierungen in den ländlichen Regionen weiterhin als militärische Organisationen begriffen, begann in den mittelitalienischen Städten schnell die Formierung als politische Bewegung. Die ländlichen Faschisten verstanden sich als progressive Kader-Bewegung und wandten sich entschieden gegen Ansätze der Entwicklung zu einer Volkspartei, was nach dem Marsch auf Rom zu Spannungen mit Mussolini führte. Dieser stützte sich innerhalb der Bewegung mehr auf die städtischen Gruppen, insbesondere in Rom und Neapel.
Bis 1924 besetzten sie nach und nach die Führungspositionen in der sich nun ausformenden Parteistruktur. Das Mussolini-Lager wurde zudem durch zahlreiche etablierte Politiker verstärkt, die sich ihm nach 1922 anschlossen. Trotzdem kam es immer wieder zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den ländlichen „Extremisten“ und der städtischen „Duce-Partei“. Dabei scheiterten mehrere Versuche, Arbeiterorganisationen über die Landarbeiter hinaus in die Partei zu integrieren.
Führerkult
In den Jahren 1924 und 1925 brachen die internen Machtkämpfe offen aus. Mussolini reagierte darauf, indem er zunehmend nicht mehr nur als Anführer der Bewegung, sondern als Duce („Führer“) ganz Italiens auftrat. 1925 stellten die „Extremisten“ für kurze Zeit den Generalsekretär der faschistischen Partei und setzten getreu ihrer Kader-Idee Aufnahmebeschränkungen durch. Schließlich versuchten sie Ende 1925, einen Streik zu organisieren, der sich auch gegen Mussolini wandte.
Nach dessen Scheitern wurden parteiinterne Wahlen abgeschafft und die „Extremisten“ aus wichtigen Positionen entfernt. In den folgenden Jahren scheiterten mehrere Versuche, die alten Eliten sowie Offiziere in die Partei zu integrieren. Der Zulauf kam vor allem aus der Beamtenschaft. Eine Dominanz über alle gesellschaftlichen Bereiche wie die NSDAP in Deutschland erreichte die faschistische Partei Italiens daher nie.
1925 verbot Mussolini die Sozialistische Partei und antifaschistische Organisationen und schuf mit seinem Führerkult – dem mussolinismo – ein Modell für andere faschistische Diktaturen. Der Duce präsentierte sich als Mann des Volkes: Arbeiter, Vater, Sportler, Frauenheld, Soldat, mit Uniform und martialischem Auftreten. Der Großmachtanspruch des antiken Römischen Reiches blieb leitende Idee des italienischen Faschismus und führte namentlich zum Überfall auf Äthiopien 1935. Ab 1938 verfolgte der Faschismus auch offiziell eine antisemitische Politik, die auch aus eigenem Antrieb entstand, und nicht nur auf deutschen Druck.
Imperialismus
Die Politik des Faschismus zielte darauf ab, Italien als Großmacht zu etablieren. Dazu gehörte unter anderem die Einverleibung weiterer Gebiete an der Adriaküste im Zeichen des Irredentismus. Der Vertrag von Rom (1924) besiegelte die Annexion der Stadt Fiume an das Königreich, nachdem der Grenzvertrag von Rapallo bereits 1920 den Dazugewinn von Zara bedeutet hatte.
Vor allem aber sollte sich Italien als die bestimmende Macht im Mittelmeerraum (Mare Nostrum) etablieren und sich als Kolonialmacht behaupten. Bereits 1924 wurde Italien das Jubaland zugeschlagen, um es dafür zu entschädigen, dass es an der Aufteilung des deutschen Kolonialbesitzes nicht beteiligt worden war. Infolge des – mit äußerst brutalen Mitteln geführten – Abessinienkrieges konnte bis zum 9. Mai 1936 ganz Abessinien erobert werden.
1939 ging Italien das als „Stahlpakt“ bezeichnete Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich ein. Mussolini proklamierte am 1. September 1939 die „Nichtkriegführung“ (non belligeranza) Italiens; das angekündigte „entscheidende Gewicht“ (peso determinante) seines Landes warf er aber schon im Juni 1940 in den Kampf, als England und Frankreich der Krieg erklärt wurde.
Als Kriegsziel wurde abermals die Schaffung eines italienischen Imperiums erklärt. Italien würde sein Territorium auf Nizza, Korsika, Malta, die gesamte Küste Dalmatiens mitsamt Albanien, Kreta und weitere griechische Inseln ausweiten. Zu den bisherigen Kolonien würden Tunesien, Ägypten (mit Sinai-Halbinsel), Sudan und Teile Kenias hinzukommen, um eine Landverbindung von Libyen nach Äthiopien sicherzustellen. Auch die Territorien von Britisch- und Französisch-Somaliland sowie Teile Französisch-Äquatorialafrikas sollten somit in Besitz genommen werden, mit der Türkei und arabischen Staaten Vereinbarungen über Einflusszonen getroffen werden. Zudem sollten die strategisch wichtigen Stützpunkte Aden und Perim unter italienische Kontrolle gelangen.
Die italienischen Operationen waren jedoch nicht erfolgreich: Der Angriff gegen das bereits geschlagene Frankreich blieb in den Alpen stecken; die Offensive gegen die Briten in Nordafrika Ende 1940 und der Feldzug gegen Griechenland scheiterten und konnten nur durch das Eingreifen der deutschen Wehrmacht überdeckt werden. Die neuere Forschung schreibt die desaströsen Ergebnisse vor allem dilettantischer strategischer Planung und maßloser Selbstüberschätzung insbesondere des „Duce“ selbst zu. 1941 nahm ein italienisches Expeditionskorps am deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion teil. Gleichzeitig erreichte die Ausdehnung Italiens und seiner kolonialen Besitztümer auch dank deutscher Unterstützung ihren Höhepunkt. Bald darauf scheiterte die letzte deutsch-italienische Offensive in Nordafrika. Die Kette der Niederlagen für das faschistische Regime setzte sich nun fort: Nach der Kapitulation der Achsentruppen in Tunesien im Mai 1943 eroberten Amerikaner und Briten die Inseln Lampedusa und Pantelleria und landeten im Juli 1943 in der Operation Husky auf Sizilien. Der Traum eines italienischen Imperiums war zerplatzt.
Judenverfolgung
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war es auch in Italien zu einem Aufkeimen des Antisemitismus gekommen, an dem auch die katholische Kirche beteiligt war (Antijudaismus). Die Stellung der italienischen Juden war während dieses Zeitraumes jedoch dennoch als vergleichsweise günstig zu betrachten. Die Trägerschichten des Risorgimento vertraten vor allem liberale Werte, aus welchen die Gleichstellung aller Bürger - somit auch der Juden - hervorging. Bei der Ausrufung des Königreichs Italiens im Jahr 1861 musste zudem nicht auf Interessen der katholischen Kirche geachtet werden, welche sich der nationalen Einigung generell widersetzte. Die italienischen Juden bildeten größtenteils eine urbane, bürgerliche Schicht, die ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau aufwies und vor allem in den Metropolen Nord- und Mittelitaliens ansässig war. Aufgrund dieser Eigenschaften rückten sie nach der Jahrhundertwende und der Zeit des Fin de Siècle zeitweise als Symbol der Moderne und deren Auswüchse in den Fokus. Auch im Umfeld des Italienisch-Türkischen Krieges wurde die Loyalität der italienischen Juden im erstarkenden Lager der Nationalisten angezweifelt. Im Unterschied zum Deutschen Reich jedoch fanden derlei Ressentiments keinen Weg in die politische Führungsschicht des Landes, welche nach wie vor liberal ausgerichtet war.<ref>Vgl. Thomas Schlemmer u. Hans Woller: Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945. In: Karl Dietrich Bracher/Hans-Peter Schwarz/Horst Möller (Hrsg.): Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jahrgang 53 (2005), Heft 2, S. 164–201. (online).</ref>
Nach der Machtergreifung durch die Faschisten im Jahr 1922 konnten die italienischen Juden ihre gesellschaftliche Stellung halten. Ihnen war es auch nicht verwehrt, dem Partito Nazionale Fascista beizutreten: Etwa zweihundert Juden waren schon beim Marsch auf Rom dabei. Einige von ihnen brachten es zu hohen Ämtern in der Partei, so Aldo Finzi, der 1942 aus der Partei ausgeschlossen wurde, sich der Resistenza anschloss und beim Massaker der Ardeatinischen Höhlen ermordet wurde, oder Guido Jung, italienischer Finanzminister von 1932 bis 1935.
Öffentlich äußerte sich Mussolini zu Rassentheorien und Antisemitismus sehr kritisch. Eine seiner Geliebten, Margherita Sarfatti, war selber Jüdin. Vor einer Versammlung ausländischer Journalisten erklärte Mussolini im November 1927:
„Faschismus bedeutet Einigkeit, Antisemitismus dagegen Destruktion. Faschistischer Antisemitismus oder antisemitischer Faschismus sind deshalb eine krasse Absurdität. Wir in Italien finden es höchst lächerlich, wenn wir hören, wie die Antisemiten in Deutschland durch den Faschismus an die Macht kommen wollen. Auch von anderen Ländern kommt zu uns die Nachricht, daß ein antisemitisch gefärbter Faschismus Boden zu gewinnen sucht. Wir protestieren energisch dagegen, daß der Faschismus auf diese Weise kompromittiert wird. Der Antisemitismus ist ein Produkt der Barbarei, während der Faschismus auf der höchsten Zivilisationsstufe steht und dem Antisemitismus diametral entgegengesetzt ist.“
An diesem Standpunkt habe Mussolini konsequent festgehalten, schreibt Hugo Valentin im Jahr 1937.<ref>Hugo Valentin: Antisemitenspiegel: der Antisemitismus: Geschichte, Kritik, Soziologie. Wien 1937, S. 72.</ref> Aber schon zu Beginn der 1930er Jahre wurden erste Anzeichen eines staatlich verordneten Antisemitismus auch in Italien sichtbar.<ref>Brunello Mantelli: Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. Über die tiefen kulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und anderswo. In: Christof Dipper (Hrsg.): Deutschland und Italien 1860–1960 (= Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien 52). Oldenbourg, München 2005, S. 207.</ref> Das Gesetz über die israelitischen Gemeinschaften (Legge Falco) brachte nicht nur die Reorganisation der Kultusgemeinschaften mit sich, sondern auch eine verstärkte Kontrolle und Einmischung durch den Staat. Unter anderem sollte der Anteil an jüdischen Führungskräften dadurch beschränkt werden. Dies hinderte Italien vorerst aber nicht daran, aus dem Deutschen Reich geflüchtete Juden aufzunehmen bzw. ihre Weiterreise nach Palästina zu ermöglichen.
Nach Adolf Hitlers Machtübernahme in Deutschland kam es auch in Italien zu einer Reihe antijüdischer Publikationen. Faschistische Zeitschriften wie Il Tevere, Giornalissimo, Quadrivio zeichneten sich durch ihren radikalen Antisemitismus aus. Die 2009 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1932–38 seiner Geliebten Clara Petacci zeigen einen Mussolini, der sich privat sehr antisemitisch äußerte.<ref>Tagebücher der Geliebten, Welt Online, 19. November 2009, abgerufen am 27. November 2009.</ref> Im Vorfeld des Abessinienkrieges kam es zu einem weiteren Erstarken des Rassismus. Den Wendepunkt in der Judenpolitik des faschistischen Regimes brachte schließlich das Jahr 1938. Auch auf Druck des Deutschen Reiches setzte der erstarkte antisemitische Flügel des Partito Nazionale Fascista (unter anderem Roberto Farinacci, Telesio Interlandi, Paolo Orano und Giovanni Preziosi) ein Manifest der Rasse auf (Manifesto della razza), das in den Rassengesetzen (leggi razziali) gipfelte. Die Juden wurden als außereuropäische, unitalienische und deshalb nicht assimilierbare Bevölkerung definiert.<ref>Gli ebrei rappresentano l’unica popolazione che non si è mai assimilata in Italia perchè essa è costituita da elementi razziali non europei, diversi in modo assoluto dagli elementi che hanno dato origine agli Italiani.</ref>
Die Juden in Italien (39.000 Staatsbürger und 11.200 Ausländer) wurden fortan registriert und ausgegrenzt. Als Mussolini im Juli 1943 gestürzt wurde, gab es kaum einen Beruf mehr, den Juden legal ausüben durften. Ab September 1943 wurden in der Italienischen Sozialrepublik die Juden enteignet, in Konzentrationslager eingewiesen und dann über Durchgangslager in die deutschen Vernichtungslager im Osten deportiert. Dabei arbeiteten deutsche und italienische Behörden eng zusammen. Es blieb aber kein Einzelfall, dass sich italienische Militärkommandierende weigerten, an den antijüdischen Aktionen der nationalsozialistischen Truppen teilzunehmen.<ref>Georg Bönisch/Jan Friedmann/Cordula Meyer/Michael Sontheimer/Klaus Wiegrefe: Der dunkle Kontinent. In: Der Spiegel. Nr. 21, 2009, S. 82–92 (18. Mai 2009, online).</ref>
Insgesamt wurden etwa 9.000 Juden unter der Herrschaft des Faschismus in deutsche Konzentrationslager deportiert und getötet.<ref>Carlo Moos: Ausgrenzung, Internierung, Deportationen, Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945). Chronos Verlag, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0641-1.</ref>
Absetzung Mussolinis und Kampf in Italien
Unter dem Eindruck der verheerenden Niederlagen 1942 und 1943 wurde Mussolini 1943 vom Großen Faschistischen Rat, dem faschistischen Exekutivorgan, abgesetzt. Diese Absetzung erfolgte systemkonform mit einfachem Mehrheitsbeschluss, da der Rat die höchste Instanz des faschistischen Staates war. Mussolini wurde inhaftiert. König Viktor Emanuel III. übernahm den Oberbefehl über die Streitkräfte und beauftragte Marschall Badoglio, eine Militärregierung zu bilden. Dieser erklärte die faschistische Partei und ihre Gliederungen per Gesetz für aufgelöst.
Das Deutsche Reich versuchte darauf, die Schwarzhemden in Italien wieder an die Macht zu bringen: Am 12. September 1943 befreiten deutsche Fallschirmjäger in der Kommandooperation Eiche mit Lastenseglern den auf dem Gran Sasso von königstreuen italienischen Truppen gefangengehaltenen Duce Mussolini. Norditalien wurde bis nach Rom durch deutsche Truppen besetzt und in diesem Gebiet eine Marionettenregierung unter Mussolini installiert, die Italienische Sozialrepublik („Republik von Salo“). Diese Parallel-Regierung blieb mit Deutschland verbündet, erklärte seinerseits dem von den Alliierten besetzten Teil Italiens den Krieg und bekämpfte in Norditalien echte oder vermeintliche Partisanen.
In den folgenden knapp zwei Jahren wurde vor allem Mittelitalien von den schweren Kämpfen entlang der nur langsam vorrückenden Front – Befreiung Roms am 4. Juni 1944 – teilweise völlig verwüstet. Kommunistische, sozialistische, katholische und liberale Partisanen der Resistenza kämpften dort gegen die deutschen Truppen und mit ihnen verbündete Italiener. Später wurde dieser Kampf vom Gros der Italiener als „nationaler Befreiungskrieg“ empfunden. Daneben hat sich auch der aus der ursprünglich neofaschistischen Geschichtsschreibung stammende Begriff des „Bürgerkriegs“ etabliert, der in Italien kontrovers diskutiert wird.
Ende April 1945 wurde Mussolini von kommunistischen Partisanen gefangengenommen und am 28. April am Comer See standrechtlich erschossen.
Am 29. April 1945 kapitulierten die deutschen Streitkräfte bedingungslos.
Gesellschaftliche Verarbeitung
Nach Kriegsende wurde in Italien die Zeit des Faschismus – die Beseitigung demokratischer Strukturen, die Zusammenarbeit mit den deutschen Nationalsozialisten und die aktive Beteiligung an der Vertreibung und Ermordung von einem Viertel der italienischen Juden – vollkommen anders rezipiert und verarbeitet als in Deutschland. Ursachen dafür waren nicht nur der im Vergleich zum Nationalsozialismus geringere Wirkungsradius der faschistischen Innen-, Außen- und Militärpolitik, sondern auch das Ausbleiben eines internationalen Kriegsverbrecherprozesses, wie der Nürnberger Prozesse. Diese Entwicklung war wiederum bedingt durch den intern herbeigeführten Sturz des Regimes, während dieser in Deutschland erst mit der Niederlage und Kapitulation erfolgte.
In weiten Teilen der italienischen Gesellschaft, vor allem bei der Linken, Anhängern von Sozialisten und Kommunisten, die sich auf die Tradition der Resistenza und des Partisanenkampfes beriefen, war und ist der Faschismus dennoch geächtet. Aufgrund der starken Rolle der Linksparteien in der Nachkriegszeit galt eine (zumindest rhetorische) eindeutige Verurteilung des Faschismus während der Ersten Republik (1946–1993) daher als gemeinsame Grundüberzeugung aller demokratischen Parteien. Seit den einschneidenden politischen Veränderungen der frühen 1990er Jahre wie dem Aufstieg Silvio Berlusconis und der nationalkonservativen, postfaschistischen Alleanza Nazionale hat jedoch eine positive oder eine relativierende Bewertung der faschistischen Vergangenheit an Einfluss gewonnen.<ref>Aram Mattioli: »Viva Mussolini«. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010.</ref>
Heute wird die Person Benito Mussolinis an seinen Wirkungsstätten, dem Amtssitz der von ihm geführten Sozialrepublik in Salò am Gardasee, der Familiengruft in Predappio oder in einem Mussolini-Museum in der Nähe von Forlì, teils von neofaschistischen Gruppierungen mystifiziert und ein Personenkult gepflegt. Die Verherrlichung des Faschismus ist nach geltender italienischer Rechtslage zwar strafbar, zu einer konsequenten Anwendung kommen diese Gesetze jedoch nicht.
Als bekennende neofaschistische Politikerin galt Alessandra Mussolini, die Enkelin des ehemaligen Diktators. Sie ist heute Abgeordnete der konservativen Partei Popolo della Libertà.
Siehe auch
Weblinks
- Franz Haas: Der herzensgute Massenmörder Mussolini. In: http://www.nzz.ch/, 8. Mai 2010, abgerufen am 11. März 2015.
- Rolf Maag: War Mussolini ein «gutmütiger Diktator»? In: http://www.20min.ch/, 4. Mai 2010, abgerufen am 11. März 2015.
- Aram Mattioli: Benito Mussolini: Politik der Gewalt. In: ZEIT Geschichte Nr. 03/2013, abgerufen am 26. April 2015.
- Aram Mattioli: Kriegsverbrechen: Der unrichtbare Dritte. In: http://www.zeit.de/, 31. Dezember 2005, abgerufen am 5. April 2015.
- Aram Mattioli: Libyen, verheißenes Land. In: http://www.zeit.de/, 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015.
- Berthold Seewald: Mussolinis Vizekönig verwüstete halb Äthiopien. In: http://www.welt.de/, abgerufen am 11. März 2015.
Literatur
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Einzelnachweise
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