Geisteswissenschaft


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Der Begriff Geisteswissenschaft(en) ist in der deutschsprachigen Denktradition eine Sammelbezeichnung für aktuell rund 40 unterschiedliche Einzelwissenschaften („Disziplinen“),<ref>Vgl. die Liste der Disziplinen im Lexikon der Geisteswissenschaften (PDF; 1,3 MB).</ref> die mit unterschiedlichen Methoden Gegenstandsbereiche, welche mit kulturellen, geistigen, medialen, teils auch sozialen bzw. soziologischen, historischen, politischen und religiösen Phänomenen zusammenhängen, untersuchen. Die meisten Geisteswissenschaften betreiben dabei also auch in einem gewissen Maße Anthropologie, da in allen Disziplinen der Mensch und seine Hervorbringungen im Mittelpunkt stehen (→ Anthropologie). Eine einheitliche Begründung der Geisteswissenschaften wurde von Wilhelm Dilthey auf Basis einer philosophischen Lehre vom Sinn und Verstehen von Lebensäußerungen (Hermeneutik) angestrebt.

Geschichte

Begriffsgeschichte

Das Wort „Geisteswissenschaft“ ist schon in einer 1787 anonym verfassten Schrift mit dem Titel Wer sind die Aufklärer? belegt, wo es heißt: „Wenn sage ich, Geistliche, die doch in der Gottesgelehrtheit und Geisteswissenschaft sorgfältigst sind unterrichtet worden ...“<ref name="Diemer211">A. Diemer: Geisteswissenschaften. In: HWPh. Band 3, S. 211.</ref> Der Autor bezieht sich also noch auf eine Theorie der „Pneumatologie des Geistes“. Damit ist eine Wissenschaft gemeint, welche Erklärungen gibt, die sich nicht auf natürliche, sondern „geistige“ Ursachen beziehen. In diesem Sinne redet auch z. B. Gottsched von einer „Geisterlehre“.<ref name="nachDiemer211">nach A. Diemer: Geisteswissenschaften. In: HWPh. Band 3, S. 211.</ref>

Fritz van Calker und Friedrich Schlegel verwenden „Geisteswissenschaft“ als Synonym für Philosophie überhaupt.<ref name="nachDiemer211" />

Näher am heutigen Wortsinn ist, was David Hume mit „moral philosophy“ meint, was Jeremy Bentham als „Pneumatologie“ von „Somatologie“ abgrenzt<ref>Oeuvres de J. Bentham 1829, Band 3, 311; hier n. Rudolf Eisler: Geisteswissenschaften. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Band 1, S. 368.</ref> und was Ampère „Noologie“ im Gegensatz zur „Kosmologie“ nennt.<ref>Essai sur la philosophie des sciences 1834; n. Eisler, l.c.</ref> John Stuart Mill bezeichnet in seinem System der deduktiven und induktiven Logik von 1843 mit „moral sciences“ die Disziplinen Psychologie, Ethologie und Soziologie. Mill bezieht dabei die induktive Logik auf die Datenbeschaffung aus geschichtlichen und gesellschaftlichen Phänomenen, weshalb die moral sciences so ungenau seien wie z. B. die Meteorologie.<ref>Vgl. den digitalisierten Volltext von System, § 6.3, bei Zeno.org nicht modernisierungsfeindlich, sondern – als Kompensation der Modernisierungsschäden – gerade modernisierungsermöglichend. Dafür brauchen sie die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd gewordener Herkunftswelten.“<ref>Odo Marquart: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 105.</ref>

Prominente Wissenschaftler wie Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß und Reinhart Koselleck forderten Anfang der 1990er Jahre eine verstärkte Umorientierung der Geisteswissenschaften hin zu Kulturwissenschaften. In ihrer Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ als Ergebnis eines Forschungsprojektes des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz bestimmen sie 1991 die Aufgabe und Zukunft der Geisteswissenschaften wie folgt:

„Die Geisteswissenschaften sind der ‹Ort›, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen. […] es ist ihre Aufgabe, dies in der Weise zu tun, daß ihre Optik auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, auf die kulturelle Form der Welt geht, die Naturwissenschaften und sie selbst eingeschlossen.“<ref>Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß, Burkhart Steinwachs: Geisteswissenschaften heute. Frankfurt am Main 1991, S. 51f.</ref>


Auf die Frage nach der Zukunft der Geisteswissenschaften in einer zunehmend technisierten Umwelt antwortete Norbert Schneider, seinerzeit (2009) Vorsteher des von der Schließung bedrohten Instituts für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe:

"Jedenfalls gab und gibt es eine große Fraktion innerhalb der technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, die [...] die eminent wichtige Funktion der Geisteswissenschaften [übersieht], die zu großen Teilen das historisch-kulturelle Erbe bewahren, auch das von technisch-naturwissenschaftlichen Errungenschaften, z.B. in der Wissenschaftsgeschichte, an der unter anderem auch die Kunstgeschichte maßgeblich beteiligt ist. Darüber hinaus halten die Geisteswissenschaften institutionell auch eine Reflexion über die Selbstverständigung der Gesellschaft lebendig in Gang, die über reines Effizienzdenken hinausgeht."<ref>Prof. Dr. Norbert Schneider zit.n.: Ka.mpus</ref>

Kritik

Hans Albert hat den methodologischen Autonomieanspruch der Geisteswissenschaft als solchen kritisiert. Er vertritt demgegenüber, dass es für Wissenschaft grundsätzlich gesehen nur eine einheitliche Methode gebe.<ref>Hans Albert: Theorie, Verstehen und Geschichte - Zur Kritik des methodologischen Autonomieanspruchs in den sogenannten Geisteswissenschaften. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie. 1, 1970.</ref> Damit leugnet er aber keineswegs, dass das (Sinn-)Verstehen eine für die Geisteswissenschaften spezifische Funktion hat; nur ist dies nach Albert keine methodologische, sondern eine der Rolle der Wahrnehmung in den Naturwissenschaften vergleichbare Funktion, ein „Sonderfall der Wahrnehmung".<ref>Hans Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens. J.C.B. Mohr, Tübingen 1994, S. 103.</ref>

Literatur

Überblicksdarstellungen

  • Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Erstausgabe 1883. Stuttgart 1922. (Text bei Zeno.org)
  • Wilhelm Dilthey; Manfred Riedel (Hrsg.): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, ISBN 3-518-27954-8.
  • Carl Friedrich Gethmann u. a.: Manifest Geisteswissenschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
  • Jörg Schreiter: Hermeneutik – Wahrheit und Verstehen. Darstellung und Texte. Studien zur spätbürgerlichen Ideologie. Akademieverlag, Berlin 1988, ISBN 3-05-000664-1.
  • Gunter Scholz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-28566-1.
  • Bernward Grünewald: Geist – Kultur – Gesellschaft. Versuch einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage. Duncker & Humblot, Berlin 2009, ISBN 978-3-428-13160-0.
  • Julian Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld. UVK, Konstanz 2014, ISBN 978-3-86764-523-2.

Reformdebatte

  • Ulrich Arnswald (Hrsg.): Die Zukunft der Geisteswissenschaften. Manutius, Heidelberg 2005, ISBN 3-934877-33-8.
  • Jörg-Dieter Gauger, Günther Rüther (Hrsg.): Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007. Herder, Freiburg 2007, ISBN 978-3-451-29822-6.
  • Ludger Heidbrink, Harald Welzer (Hrsg.): Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55954-9.
  • Klaus W. Hempfer, Philipp Antony (Hrsg.): Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre. Eine Bestandsaufnahme aus der universitären Praxis. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09379-8. (Rezension)
  • Florian Keisinger (Hrsg.): Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte. Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37336-X.
  • Bernadette Malinowski (Hrsg.): Im Gespräch: Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften. (= Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Nummer 72. Sprach- und literaturwissenschaftliche Reihe). Vögel, München 2006, ISBN 3-89650-221-2.

Weitere Einzelaspekte

  • Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945. (= Schriften des Historischen Kollegs. Band 53). Oldenbourg, München 2002, ISBN 3-486-56639-3.
  • Till R. Kuhnle: Plaidoyer pour les intellectuels? Eine Polemik in Sachen Geisteswissenschaften. In: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik. Nummer 18, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2002, ISSN 0944-8594, S. 138–146.
  • Walfried Linden, Alfred Fleissner (Hrsg.): Geist, Seele und Gehirn: Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern. Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-7973-9.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Geisteswissenschaft – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

<references />